Diese Frage stellte mir meine Mutter bei einem Spaziergang, einige Monaten, nachdem sie ins Altersheim gekommen war, nicht wegen des Heims, nein, wegen ihrer Erkrankung. Sie hatte Alzheimer.
Ich antwortete, dass ich ins Gefängnis müsste, und ob sie dies wolle.
Sie verneinte.
Da meine Mutter eine gläubige Frau war, fragte ich weiter: „Sprichst du mit Gott?“
„Ja.“
„Dann bitte ihn darum, dass du gehen darfst.“
Wir gingen eine Weile neben einander spazieren. Ich war mir nie sicher, wie lange ein Gedanke noch in ihrem Kopf blieb, deshalb wunderte ich mich, als sie Minuten später weitersprach:
„Was soll ich ihm sagen?“
„Das, was du mir gesagt hast.“
Zugegeben, es überforderte mich massiv und ich denke, auch heute noch darüber nach, denn das meiste, das später kam, machte mir ihren Wunsch verständlich. Hatte ich einfach nur Angst einen anderen Menschen zu töten? Ich wusste nicht, was richtig ist.
Doch hier fing unsere Geschichte nicht an.
4 Jahre zuvor rief mich mein Vater an, ob ich zu ihnen, meinen Eltern (ich lebte 500 km entfernt und war ihr einziges Kind) kommen könne. Meine Mutter sei nach einer Untersuchung auf der Psychiatrie nach Hause gekommen und auf seine Frage, „Was los war?“, „Nichts“, antwortete. Die Psychiaterin, die kurz darauf anrief, lud meinen Vater zu einem Gespräch ein. Das, was uns dämmerte, wurde auf den Tisch gelegt. Ich konnte auch alleine mit der Psychiaterin sprechen. Als sie meinte, meine Mutter hätte schwere Depressionen, bat ich sie, meinen Vater auch anzuschauen. Wenn meine Mutter depressiv ist, was wäre dann mein Vater? Der sei noch depressiver, sagte ich. Ein halbes Jahr später hatte ich nicht nur eine Mutter, sondern auch einen Vater mit der Diagnose Alzheimer und schweren Depressionen.
Jahre später las ich in Studien, dass schwere Depressionen auch Demenz auslösen können – also, dass das eine, das andere bedingt, nur dass die Vorzeichen bei meinen Eltern, jeweils andere waren. Also die Krankheit Alzheimer depressiv macht, beziehungsweise Depressionen, dement. Ich glaube, mein Vater hatte auf Grund seiner Depressionen demente Ausfallserscheinungen. Seine Demenz war anders. Aber wer jemals auf einer Station mit Alzheimer-Erkrankten war, weiß, dass jede/jeder ein wenig anders ist. Trotzdem seine Depression überlagerte alles. Der Demenz trat er mit zahlreichen Notizen entgegen, wo er Alltägliches notierte.
Von Depressionen auslösende Vergesslichkeit war nie die Rede. Im Gegenteil, die Art und Weise, wie meinem Vater mitgeteilt wurde, dass er Alzheimer hätte, war deprimierend. Ich war, auf sein Ersuchen, ab diesem Zeitpunkt bei allen Untersuchungen und Besprechungen dabei. Ich verstand nicht, wie man einem Menschen mit Depressionen so unsensibel einen Zustand mitteilt, der noch depressiver macht. Ich hatte mir erhofft, dass jemand, der tagtäglich damit zu tun hatte, auf einer Spezialambulanz für Alzheimer einer Uniklinik, einfühlsamer sei. Verzeihen Sie mir bitte die Ausdrucksweise, aber bei dem Gespräch „schnitt sie ihm den Schwanz ab“. Es war auch nicht viel von seinen Depressionen die Rede, die zuhause immer wieder Stoff bei unseren Gesprächen waren. Anscheinend war der Psychiaterin nicht bewusst, dass ein über 70-jähriger Mann auch noch einen gewissen Stolz hatte und es nicht leicht für ihn war, darüber zu sprechen, obwohl sie tagtäglich in dieser Ambulanz damit zu tun hatte. Er fühlte sich als Versager. Er hatte auch Angst, dass jemand sehen könnte, dass wir in die Psychiatrie gingen. Ich kenne nur einen anderen Menschen, dem er von seine Depressionen erzählte. Allen anderen ging er aus dem Weg. So viele Ängste.
Sie bekamen Medikamente verordnet und ich traf mich auch mit dem Hausarzt, der auch als Therapeut arbeitet, um mit ihm einen weiteren Ansprechpartner zu haben. Er war mir immer eine Stütze.
Ein Jahr später, bei einer weiteren Untersuchung, meinte ich, dass die Depressionen nicht besser geworden wären. Es kam zu keiner Neudosierung. Auch ersuchte ich die Psychiaterin, dass sie meinen Eltern eine Hilfe empfahl (und nicht ich, wie sie ursprünglich wollte). Ich, als ihr Kind, wollte sie nicht entmündigen. Ich wollte die Hierarchie einhalten, so gut ich es konnte. Damals erschienen mir die Monate wie Jahre. Denn wenige Monate später nahm mein Vater ein Seil und hängte sich in der Garage auf.
Trauma hat es nicht hinterlassen. Im Gegenteil. Wie oft saß ich bei meiner Mutter weinend, weil sie gerade durch irgendeine seelische Hölle ging, und ich mir dachte, wie froh ich bin, dass mein Vater diesen Weg nicht gehen musste. Und wie grauenhaft es war, als meine Mutter durch diese Qualen gehen musste. Gerade wenn sich alte äußerst schmerzhafte, lange verdrängte Erinnerungen, hochdrängten, fragte ich mich oft, was wirklich richtig, zumindest für mich richtig, wäre. Falls irgendjemand hofft, dass er sich an nichts mehr erinnert, wenn er Alzheimer hat, dann muss ich ihn enttäuschen. Emotional werden Sie viel mitbekommen.
Meine Mutter litt im ersten Altersheim. Dort gab es keine eigene Station für Demenzerkrankte. Die anderen verachteten sie, genau das spürte sie. Ihre Wut zeigte es. Mit an Wänden verschmiertem Kot, herausgerissenen Feuerlöschern und ständigem Ausbrechen aus dem Heim. Hier an dieser Stelle, danke ich all jenen, die sie wieder ins Heim zurückbrachten, auch wenn sie sie nicht kannten. (Sie hatte ein Schild an ihrer Kleidung mit der Adresse des Heims). Mir fehlen noch immer die Worte, wie ich mich fühlte, als sie am 23. Dezember nur dünn bekleidet zurückgebracht wurde.
Mir wurde von anderen Bewohnern gesagt, ich solle doch auf sie einwirken, damit sie aufhört zu sagen, dass sie sterben möchte. Tja, in etwa so sinnvoll, wie das Ersuchen, ich solle darauf achte, dass sie keinen Abfall beim Fenster hinauswirft. Oder jene Nachbarn, die die Türe nicht öffneten, obwohl sie am Türöffner sagte: „Du kennst mich, ich weiß meinen Namen nicht mehr. Lass mich bitte rein.“
Mit der Verlegung in ein anderes Heim mit einer eigenen Station für Demente wurde es kurze Zeit besser, sie sprach wieder mehr, lebte auf. Die Dementen wissen von ihren „Ver-rückungen“ und tolerieren sie. Bei schlechten Tagen kann es dann durchaus handfest zugehen, aber immer noch besser, dass man in einem gewissen Rahmen sein darf, wie man ist, als das Gefühl zu haben, völlig unerwünscht zu sein, verachtet und gemieden zu werden.
Jeder Klinikaufenthalt wurde mein persönlicher Horrortrip, den anschließend hatten sie zwar das körperliche Leiden behoben, aber psychisch ging es ihr schlechter – und nie wurde es wieder besser, wie ich anfangs hoffte. Ich dachte, es würde sich legen und es einfach nur der Schock der Behandlung im Krankenhaus war, der sich wieder legt. Dort fing auch ihre Inkontinenz an, als man sie zwang, nicht auf’s Klo zu gehen, weil sie ihr einen Katheter setzten. Einmal hatten sie sie in 10 Tagen 4x verlegt. Für jemand, der Schwierigkeiten mit der Orientierung hat, ist es, als ob man ihn in einen Irrgarten setzt, der sich laufend ändert, oder die richtungsändernde Treppe von Hogwarts.
Schlimmer war es, wenn sie auf der Psychiatrie war. Letztendlich dröhnten sie sie nur zu. Als sie in einer Erinnerungschleife war, wo sie die Abtreibung, zu der sie sich viele, viele Jahre zuvor gezwungen sah, wieder und wieder nacherlebte (mit Polster unter dem Pullover und dem verschütteten Himbeersaft zwischen den Beinen), sie viele abwehrte, mussten sie sie, nach Wochen wirklichen Bemühens des Pflegepersonals (sie verweigerte immer mehr die Körperhygiene bzw. berührt zu werden), in die Psychiatrie überstellen.
Ab diesem Zeitpunkt konnte sie nie mehr frei gehen. Sie brauchte ein kippsicheres Gehgestell, wie kleine Kinder, die laufen lernen. Es brauchte Monate, bis sie wieder etwas aufrechter gehen konnte, weil sie im Heim die hochdosierten Medikamente wieder langsam reduzierten. Ich weiß noch, wie ich am Boden saß und ihr Weihnachtslieder vorsang, weil ich nur so in ihre Augen sehen konnte. Ich konnte nie wieder mit ihr spazieren gehen, das sie so sehr liebte.
Vor zwei Jahren starb sie. Das war 9 Jahre nach der Diagnose.
Seit einem dreiviertel Jahr besuche ich eine demente Frau in einem Altersheim in der Nähe. Ich mag demente Menschen, sie sind klar und direkt mit ihren Emotionen. Und ich kann es nicht leiden, wie oft demente Menschen gezwungen werden, völlig sinnlos irgendwelchen Normen zu gehorchen. „Setz dich nieder, wenn du isst!“ Und das bei jemandem, der schon so dünn ist, dass ich froh bin, dass sie isst. Ich drücke ihr dann schon mal beim Vorüberlaufen einen Plastikbecher mit Wasser oder Saft in die Hand. Manchmal nehme ich sie an der Hand und gehe eine Runde mit ihr, während andere sie immer wieder zur Seite schieben oder auf einen Sessel drücken. Und ich höre ihr zu, wenn sie in ihrer Sprache, weil unsere Wörter verloren gegangen sind, spricht. Wenn sie mich nicht mögen, zeigen sie es mir klar und deutlich. Und wenn sie einen mögen auch. So wie beim letzten Besuch, wo meine alte Dame mir zuflüsterte: „Wir lieben uns“. Und manchmal, wenn ein Bekannter sie wie ein Kind behandelt, flüstert sie mir zu: „So ein Trottel.“ Und ich muss lachen, weil sie so recht hat. Wenn sie mir übers Haar streicht, ist es so, als ob meine Mutter mich grüßt. Sie wird jede Woche dünner. Haut und Knochen. Heute wurde sie um 3 Uhr nachmittag ins Bett gelegt. Es fällt ihnen nicht auf, dass sie im Aufenthaltsraum alles aufmerksam beobachtet. In ihrem Zimmer starrt sie auf die Wand, ein paar Fotos und läuft durch die Luft. Sie liebt Bewegung, aber in diesem Heim gibt es keine kippsicheren Gehgestelle, wie sie meine Mutter hatte. Ich bin nur eine ehrenamtliche Besucherin, meine Meinung ist absolut unwichtig. Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, dann geht sie endgültig. Das Schwerste ist, nichts tun zu können.
Ich denke oft an den freigewählten Tod nach. Auch wenn Alzheimer die einzige Krankheit ist, die in meiner Vorstellung ein persönlich Anlass wäre, diesen Schritt zu gehen, achte und respektiere ich jeden Tod.
Hilfe auf ärztlicher Seite sah ich so wenig. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass sie in ihrer Verzweiflung unbedingt etwas verschreiben wollten. Der Hausarzt war ein schöner Mann und meine Mutter strahlte ihn an und blühte auf, wenn er auf sie zukam. Mehr als bei mich, aber ich war froh, dass es diese Momente gab. Er war Medizin. Trotzallem ist es einfach manchmal so, dass es keine wirkliche Hilfe gibt. Das ist schwer zu akzeptieren, aber so ist es. Das habe ich bei meinen Eltern gelernt. Es gibt Grenzen, wo unsere Medizin nicht mehr helfen kann.
Der Suizid hat keine Wunden hinterlassen, die lange Krankheit meiner Mutter schon. Ich selbst war auch nie wütend auf ihn, meine Mutter schon. Sie wusste, dass sie nicht mehr „funktioniert“, hat aber nicht bemerkt, dass mein Vater auch nicht mehr richtig „funktioniert.“ Sie wollte sich auf ihn stützen, ihm war das zu viel. Suizid ist weder Fisch noch Fleisch. Ein „Was wäre richtig“ zu postulieren, erscheint mir widersinnig. Es sind alles einzelne Menschen mit ihren eigenen Schicksalen.
Und der Tod meiner Mutter war Erlösung für uns beide.
Im Übrigen tue ich alles, was ich zur Vorbeugung dieser Krankheit tun kann, vom gesunden Leben angefangen, Essen, Bewegung bis zum geistigem Fitnesstraining. Und ich kann es nicht leiden, wenn Menschen, wenn sie etwas vergessen, sagen, das ist mein Alzheimer. Das ist einfach nur vergessen, noch keine schwere Krankheit.