Nein, keine Angst, ich bin keine Philosophin und ich habe auch nicht nachgelesen oder offizielle Definitionen dazu eingeholt.
Ich denke nur gerne, also tu ich es.
Allein, über mich selbst, ohne Proklamation irgendwelcher Standards oder Wahrheiten. Denn über diese bin ich mir nicht sicher. Das hat weniger mit Zweifel zu tun, als mit dem Bewusstsein, dass ich meine Meinung immer wieder nachjustiert habe. Nicht auf den Kopf gestellt, aber eine regelmässige Feinabstimmung habe ich immer als angenehm empfunden.
Hingegen wissen und wussten andere immer schon so viel mehr. Die können auch voraussagen, wie sie handeln werden.
Der Unterschied zu ihnen wurde mir klar, als ich vor vielen Jahren vom Milgram-Experiment las. Jenem Experiment, bei dem untersucht wurde, wie autoritätshörig Menschen sind. Milgram wollte wissen, zu welchen Taten Menschen fähig sind, die im totalen Gegensatz zu ihren eigenen Wertvorstellungen liegen. 65% folgten den Anordnungen von Experten bis zum Ende, das wäre der Tod des anderen gewesen. Ich sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass manche Teilnehmer des ursprünglichen Versuchs bis in ihre Grundfeste erschüttert waren und noch Jahre später unter ihrer damaligen Entscheidung litten.
Ich war jung damals. Und meinte, dass ich hoffentlich fähig bin, „Nein“ zu sagen und wurde dabei angesehen, als ob ich zu allem fähig wäre. Die anderen waren felsenfest davon überzeugt, niemals soweit gehen zu können. Sie waren mir unheimlich. Nur ich zweifelte.
30 Jahre später bin ich etwas sicherer, dass ich es nicht zulassen würde, ziemlich sicher sogar. Schwören würde ich noch immer nicht. Zu viele Bedingungen könnten meine Entscheidung beeinflussen. Hoffen allerdings, tu ich noch immer.
Denn ich erlebte vergleichbare Situationen, vielleicht nicht so dramatisch, aber intensiv genug. Ich arbeitete unter Menschen, die meinen moralischen Anforderungen nicht entsprachen.
Meine Vorgesetzte lachte über einen Gebärdendolmetsch, weil sie nicht wusste, dass zur Gebärde auch Körpersprache und Mimik gehört, eine Akademikerin in leitender Position. Sie lästerte leise bei einem Meeting, über einen gehörbehinderten Kollegen, dessen Frage sie so umständlich beantwortete, dass er sie trotz Dolmetsch nicht verstand. Sie umschrieb das Faktum bis zur Unkenntlichkeit. Empathie und Wissen über die Sprache von Gehörbehinderten hätte eine klarere Aussage gebracht. Dies löste bei mir Kopfschütteln aus und kurz darauf einigten wir uns, dass ich diese Einrichtung verlasse. Ein Beispiel unter vielen. Was hätte ich ausrichten können? Nichts, keiner hätte mir geglaubt. Man hatte mich das bereits wissen lassen. Ich hatte erfahren, dass ich hätte nichts verändern konnte. Denn ich hatte schon einmal Zweifel geäußert, bat diesen nachzugehen und wurde abgeschmettert.
Menschen hören und lesen gerne, was sie hören und lesen möchten.
Ich erlebte aber auch Journalisten, die, als es um ihren wohldotierten Job ging, lieber schwiegen, als gegen ihren Chef aufzutreten. Sie ließen sich den Mund verbieten. Als ihr Chef nichts dagegen hatte, wurden sie hingegen als Kämpfer gefeiert, gegen … – ist ja auch egal was. Es war ein „Gegen“, das genehm und öffentlich akzeptiert in ihren Kreisen war, weil es nutzte, und ohne Gefahr behaftet, den eigenen Wohlstand zu verlieren. Ich hatte die Villenetage gesehen, die 200 m2 Wohnung, und das Wochenenddomizil, eine Fabrik, die den Arbeitergeist zeigen sollte, der sie beflügelte. Ich hatte gesehen, was verloren gegangen wäre. Aber ich erlebte nicht, dass sie ein tatsächliches Risiko eingegangen wären und irgendetwas verloren hätten.
Und ich soll keine Zweifel haben, wer den Knopf für den Stromschlag in Milgram’s Experiment drückt? Was ist nun mein freier Wille? Wenn ich agiere, dass es mir nicht schadet? Wenn ich danach trachte, ein gemütliches Leben zu führen? Welche Normen habe ich für mich errichtet? Oder schleiche ich mich durchs Leben, auf angenehme Art und Weise, suche nach Freunden, die mir applaudieren? Ist das noch freier Wille oder nur die Suche nach Anerkennung, nur der Weg der Bequemlichkeit, des geringsten Widerstands? Interessiert mich nur, was andere von mir halten oder mein gemütliches Leben? Definiere ich mich darüber, was sie von mir denken? Wer bin ich dann? Noch ich selbst oder doch die anderen?