Sie konnte es nicht glauben. Es war schon wieder passiert. Jemand stahl ihr das Blau. Jenes, mit dem sie vor 30 Jahren einen heimlichen Liebespakt geschlossen hatte. Es war ihre Leidenschaft, da konnte doch nicht schon wieder jemand kommen und es ihr einfach wegnehmen.
Der erste war ein Künstler: Yves Klein, den konnte sie noch verkraften. Der hatte genau das gemacht, was sie in ihrem Kopf wie ein Heiligtum bewahrt hatte. Im Nachhinein war sie froh, es nie versucht zu haben. Sie hätte sich lächerlich gemacht. Als sie zum ersten Mal das Glas mit den ultramarinblauen Pigmente in ihren Händen hielt, wusste sie, damit dürfen nur blaue Bilder gemalt werden. Schatten war das einzige Element, dass in die Farbe eingreifen durfte, ihr Schwung und Leben einhauchen.
Der Tag, an dem das Blau ihr Leben betrat, war einer dieser Tage, diese besonderen, unvergesslichen. Sie waren den ganzen Tag zu dritt unterwegs und als sie am Abend zu ihm ins Studio kamen, waren sie betrunken von den Strahlen des Sommers, der ihre Seelen auf das Nächste vorbereitet hatte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wer von ihnen die Idee hatte. Sie war plötzlich da, angesichts der Farben, des goldigen Abendlichts und der Stimmung, die sie eingefangen hatte. Jeder durfte ein halbes Gesicht des anderen anmalen. Und so wurden aus 2 jungen Frauen und einem Mann, 6 Wesen, ohne Geschlecht, die plötzlich die Bilder des anderen statt ihres eigenen Gesichtes trugen. Es war, als wären unterschiedliche Geister gleichzeitig zum Leben erwacht. Sie hatte damals keine Ahnung von Künstlern, Performances und anderem Tanderadei. Für sie war es einer jener Momente, die zu schön sind, um vergessen werden zu können. Sie wurden zu mythischen Fabelwesen und selbst die Laute, die aus ihren Mündern flüchteten, kamen aus anderen Welten. Unbekannten Wesen. Leben konnte etwas ganz anderes sein. Zwei Seelen in einer Brust, Sechs in Dreien. Als die Dunkelheit die Herrschaft übernahm, sah sie das Ultramarin und fragte, ob sie etwas davon haben könnte. Er füllte es in ein gewöhnliches Marmeladeglas mit goldfarbenem Deckel. So kam das Ultramarin in ihr Leben.
Sie wurde erwachsen, das Glas mit der Farbe trug sie von einer Wohnung zur anderen, als ob eine Farbe allein schon ein Kunstwerk sein könnte. Irgendwann würde sie ein blaues Bild machen, nicht malen, sie wusste nur nicht wie sie Höhen und Tiefen, die Dynamik des Pigments auf eine Leinwand bringen könnte. Bindemittel waren nur ein anderes Problem, das noch viel weiter weg war. Sie vergass die Bilder. Sie war vernünftig und das blaue Glas fest zugedreht, um ihre Träume gefangen zu halten. Manchmal dachte sie, dass sie die Einzige wäre, die das Abbild, das die Farbe auf ihrem Sehnerv hinterließ, spüren konnte. Keiner, den sie traf, verstand, worüber sie sprach, wenn sie von ihrem Blau zu reden begann. Ihren Freunden fiel nie auf, dass ein Glas mit gefangenem Blau zwischen ihren Büchern stand.
Sie wusste nicht, dass andere ihre Faszination teilten. Nein, nicht teilten, genauso verfallen waren. Als es zum ersten Mal passierte, dachte sie, er hätten ihr das Blau gestohlen. Es brauchte eine Weile, bis sie seine Begeisterung nicht als Raub, sondern als Gewinn betrachtete. Als ihr das klar wurde, wäre sie am liebsten herumgelaufen und hätte andere rumgewirbelt vor Freude.
In den dreißig Jahre dazwischen ist bei einem ihrer Umzüge, das blaue Marmeladeglas verschwunden. Schon lange dachte sie nicht mehr über ihr Blau nach. Bis die Ausstellung mit den Werken Yves Kleins in ihre Stadt kam.
Der Tag fing harmlos an, sie ahnte nichts. Gäste waren zu Besuch und sie stellte ihnen frei, wo es hingehen sollte. Moderne Kunst. Sie freute sich, denn dort gab es immer etwas Unerwartetes. Sie liebte Überraschungen. Yves Klein, noch nie gehört. Je weniger sie wusste desto besser. Sie las auch keine Reiseführer, bevor sie woanders hin fuhr, um sich nicht des Staunens zu berauben.
Sie lösten Eintrittskarten und als sie in den ersten Raum gingen, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. Da waren die Bilder. Ihre Bilder. Echt. Die, die immer in ihrem Kopf zuhause waren. Sie hätte sie angreifen können. Sie zitterte innerlich. Der Schwindel legte sich nicht. Sie verstand nichts mehr. Konnte es wirklich sein, dass sie etwas im Nachhinein neu erfinden konnte? Die Zeiten verschwommen, zerstoben in alle Richtungen. Klein hatte diese Bilder gemalt, als sie gerade gehen konnte. Die Bilder in ihrem Kopf entstanden Jahre später und nun stand sie vor ihnen, ein halbes Menschenleben später. Sie durfte nicht laut schreien und jubeln. Am liebsten wäre sie zu jedem einzelnen Besucher hingelaufen, um ihm ihre Geschichte zu erzählen, die ja gar keine Geschichte sondern nur ein Gefühl, ein Geschmack, eine Erinnerung. Ihre Emotionen spielten mit ihr, sie hätte weinen und lachen können. Niemand hätte ihr geglaubt, wenn sie gesagt hätte: Das sind meine Bilder. Ich habe sie gemalt vor vielen Jahren. Er hat genau das umgesetzt, was sie plante. Nur zwanzig Jahre früher. Lange bevor sie in ihrem Kopf zu leben begannen.
Ihre Freunde sahen sie zweifelnd an. Weshalb sich wegen blauer Bilder aufregen? Sie tat, was sie immer tat. Sie wurde äußerlich ruhig, dämpfte ihre Stimme und fand sich damit ab, dass es niemanden interessierte, dass sie zwanzig Jahre, nachdem Yves Klein solche Bilder malte, die Idee hatte genau solche Bilder zu malen. Keiner würde ihr glauben, dass es sich hier um eine Synchronizität handelt, die die Zeit überwunden hatte. Sie war sich sicher, dass genau das passiert war. Es wärmte sie, dass es einen gab, der beim Anblick dieser Farbe wie sie empfand. Er hatte es zum Programm gemacht, diese Farbe zu lieben. Es war ihr Geheimnis. Das verband sie mit Yves Klein, Jahrzehnte nach seinem Tod. Eine Nähe, die keine war. Nur eine gemeinsame Begeisterung. Mysterien. Keiner konnte ihr dieses nehmen. Im Stillen war sie froh, dass er schon gestorben war. Sie hätte sich gemeldet, sie hätte ihn treffen müssen, sie hätte ihn nur mit offenem Mund gegenübertreten wollen. Nichts sagen, nur in seine Augen blicken. Keiner würde ihr glauben, dass sie nichts von Yves Kleins Blau gewusst hatte. Niemand würde verstehen, warum es Herzklopfen bei ihr auslöste.
Ihre Aufregung legte sich. Wieder vergingen Tage, Monate und Jahre. Sie gewöhnte sich daran, dass es Bilder gab, die ein anderer gemalt hatte, die Jahre nur in ihrem Kopf existierten. Denn es gab nichts anderes, mit diesem Blau zu tun, als solche Bilder zu malen.
Bis zu jenem Tag, als sie vor einer Auslage stehen blieb. Das Geschäft hatte ein Auslage ganz in Blau und mitten drinnen lag ein Buch „Nur Blau“ von Bernhard Aichner. Auf dem Titelblatt war genau ihr Blau, ihre Pigmente.
Nicht schon wieder, nicht noch einer, der ihr Blau stiehlt. Einer ist ja zu verkraften, aber ein Zweiter? Es kam schlimmer. Sie hatte den Buchladen betreten, das Buch ohne darin herumzublättern gekauft und war auf schnellstem Wege nach Hause. Sie begann zu lesen und er schrieb von Menschen, die genau wie sie von diesem Blau gefangen genommen waren. Zwanzig Seiten am Stück, mehr konnte ihr Herz nicht verkraften. Und seine Worte. Immer wieder fragte sie sich, ob andere nur annähernd verstehen, was dieses Blau macht. Wie das Blau einen frisst. Nicht schmerzhaft. Sie wird verschlungen, weil sie wehrlos ist. Er schreibt. Auch er zieht hinein. Sie weiss nicht, ob er Worte aus ihrem Kopf gestohlen hat. Wie Yves Klein das Blau.
Sie ist nicht allein. Ein eigenartiges Gefühl.