Goldschatz gefunden

Es gab immer wieder Momente in meinem Leben, wo ich feststellte, dass ich sehr reich bin. Aber mein Reichtum hatte nie mit Geld zu tun (wenn dann doch Geld auftaucht, dann bin ich noch immer sehr überrascht).

Mein Reichtum begründet sich auf Freunde, der Möglichkeit zu lernen, Kreativität, Zeit, Erlebnissen, Wissen – einem aktiven Leben.

Freunde schenken mir Geborgenheit.

Es sind meine Freunde, mit denen ich singe, spazieren gehe, bei einem guten Essen Gedanken austausche, und in besonderen Stunden Offenheit erfahre. Sie sind ein wichtiger Bestandteil meines Reichtums, vielleicht der wichtigste. Wie froh bin ich, dass ich sie habe. Als Mensch bin ich auf andere angewiesen und ich werde ganz still und demütig, wenn ich mit ihnen sein darf – im Herzen, außen lache ich ganz laut und bin alles andere als still. Wobei ich in letzter Zeit immer frecher werden, was mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich glaube mit 13 Jahren war ich ähnlich aufmüpfig. Aber ich bekenne, dass ich mir selbst gegenüber mindestens genauso frech bin, denn es bringt mich zum Lachen. Und ich lache so gerne. Und eigentlich will ich damit auch andere Menschen zum Lachen bringen. Der Mensch allerdings, über den ich am liebsten lache, bin ich selbst. Sollte meine Zunge dich treffen, dann ist es eine zugegebener Maßen sehr verrückte Liebeserklärung, mit der ich dich zum Lachen bringen will. Denn Lachen gehört wohl auch zu den größten Reichtümern, die man im Leben erringen kann.

Während der Zeit des langen Abschieds von meinen Eltern fürchtete ich nichts mehr, als keine Familie mehr zu haben, und ich bin sehr froh, dass ich mich von beiden lange verabschieden konnte, dass wir Frieden fanden in unseren Herzen und alle Unterschiede, die uns oft verzweifeln ließen, am Ende keine Rolle mehr spielten. Alle Turbulenzen konnten wir in Frieden umwandeln, sodass uns noch ruhige Stunden blieben, auch wenn mich die Trauer immer wieder gefesselt hielt. (Meine Mutter und mein Vater hatten Alzheimer, es war also ein langsamer Abschied über Jahre). Aber die Panik ohne Familie weiterzuleben, war oft mit mir. Speziell, weil in dieser Zeit auch langjährige Freunde gingen. Ich begann den Spruch, „In der Not erkennst du deine wahren Freunde“, zu hassen. Und noch viel mehr: das verlorene Vertrauen. Erst spät erkannte ich, was in meinem Herzen zerbrochen war.

Damals entdeckte ich eine ganz spezielle Freundschaft: Die Liebe zur Erde, dem Planeten, auf dem ich lebe. Wie ein Liebhaber begann ich sie zu beobachten, zu hören, und zu spüren, was das Besondere ist, ich fing an zu lesen und zu lernen, was unseren Planeten ausmacht, wie sich seine Entwicklung gestaltete, wie die Erde ein Zuhause nicht nur für Menschen wurde. Und es ist eine sehr außergewöhnliche Liebe und gar nicht esoterisch, wie es im ersten Moment erscheinen könnte.

Es war Neugier, die mir half, die Trauer zu vergessen.

Ich meine entdeckte meine Heimat neu: Die Erde. Ich lernte von Kontinenten, von Vulkanen, der Evolution, dem Klima, und vielem mehr. Das hat meinen Blick verändert.

  • Wenn ich heute auf die Kalkalpen schaue, denke ich an die vielen Tiere, die dessen Fundament bilden.
  • Wenn ich einen Vulkan sehe, dann erinnert er mich daran, dass es die Kontinentalplatten sind, die sich bewegen und wenn sie in die Erdkruste eintauchen, kommt Heißes zum Vorschein, und viele Kilometer weiter weg türmen sich Berge in die Höhe.
  • Wenn ich eine neue Straße sehe, dann muss ich daran denken, dass dort wieder Leben verloren gegangen ist.
  • Und sehe ich eine Spinne, dann weiß ich, dass auch sie am Ende einer Evolutionskette steht, auch sie ist die Jüngste von allen Spinnen, die einst vor ihr waren.
  • Sehe ich Flechten, dann weiß ich, dass sie uralt sind und als erste an Land kamen und Felsen langsam in Erde verwandelten, die dann den Pflanzen halt geben konnte. Allein der Gedanke, dass alle fruchtbare Erde unter unseren Füßen vergangenes Leben ist, berührt mich tief. Und dass Flechten nie alleine sind, denn sie gibt es nur in Kombination: ein Pilz und Cyanobakterien haben sich zusammengetan, um als Flechte auf der Erde zu existieren.
  • Die Cyanobakterien, die die ersten waren, die Sauerstoff erzeugten, sodass irgendwann Leben wie wir es kennen erst möglich wurde. Davor blubberten Bakterien und andere Einzeller in ziemlich giftigen Gasen und Wasser herum, das uns ganz und gar nicht wie unsere Welt erschienen wäre.

Angesichts dieser vielen Wesen, die mein Leben erst ermöglichten, bin ich demütig. Mit dem Wissen um sie, kam die Verbundenheit mit ihnen. Sie alle ermöglichten, dass es heute Menschen gibt. Vielleicht müssen Astronauten erst mal von oben herab schauen, um zu erkennen, wie klein wir sind. Ich nicht, ich habe in die Vergangenheit geschaut. Wenn ich nur 30 Generationen zurückgehe, sehe ich 1 Milliarde Menschen, die mein Leben ermöglichten, und da sind gerade mal 500 bis 1000 Jahre vergangen. Was für ein wunderbarer Zufall bin ich.

Betrachte ich all dieses vielfältige Leben zusammen, erkenne ich, dass ich Teil des Ganzen bin, Teil von ganz viel Wunderbaren auf unserer Erde. (Wissen zu finden, geht heute leichter wie je zuvor, mit Leserausweis und Youtube habe ich praktisch alles gratis lernen können).

Neben meinen Freunden brauche ich aber auch andere Helfer für meinen Reichtum. Von meiner Neugier, die Welt zu verstehen, habe ich gerade erzählt.

Aber, was tun, wenn der Kopf vor lauter Gedanken zu rauschen und rauchen beginnt?

Beispiele aus dem Adventkalender 2017
Beispiele aus dem Adventkalender 2017

Da fange ich an, etwas mit meinen Händen zu tun. Da zeichne ich einfache Dinge, die zwingen, mich zu konzentrieren, und kein anderer Lärm kann mich stören. Ich kann keinen geraden Strich ziehen und zugleich über komplexe oder emotionale Dinge nachdenken. Da bin ich ganz bei meinem Stift und dem Strich, den ich ziehe. Mein Hirn bekommt andere Nahrung und nimmt sie dankbar auf. Viele Bilder sind so entstanden, für mich ist es eine Form der Meditation. Dass sie Menschen gefallen, ist cool, aber nicht das Wichtigste. Die Ruhe im Kopf, darum geht es mir.

Aber erst gestern ist mir eingefallen, dass ich schon vor 30 Jahren Briefpapier gestaltete, damals als man noch zur Post ging, um Briefe zu wegzuschicken. Jedes Jahr zu Weihnachten gab es einen Stapel buntes Papier mit einem kleinen Motiv von mir.

Dass es da noch Stricken gibt, Speckstein-Schnitzen, oder Kochen (das ich derzeit überhaupt nicht mag), Schmuck und Gestecke, Töpfern und Tadelakt, zeugt nur von meiner Ungeduld. Nein, das ist mein Leben lang nicht besser geworden. Ich nenne es, meinen persönlichen Kindergarten ausleben. Ich bin nicht jemand, der jahrelang das Gleiche machen kann. Anstatt mich zu tadeln, betrachte ich es inzwischen als eine Tugend, keine Expertin zu sein, sondern nur eine leidenschaftliche Amateurin. Und jene, die sich einer Sache ganz und gar widmen können, bewundere ich zu tiefst. Sie werden vermutlich gar keine Freude daran haben, 1000 und 1 verschiedene Dinge zu machen. Wie wunderbar, dass wir so verschieden sind.

Oder wenn ich fotografiere, dann kann mich die Freude packen, etwas ganz neu wahrgenommen zu haben. Und wenn ich dann feststelle, dass ich Flechten auf der ganzen Welt fotografiert habe, dann muss ich lachen, daran merke ich, wie lieb ich sie habe.

 

Und wenn es mich emotional durchschüttelt, dann springen Wörter aus meinem Kopf, wie dieses Gedicht:

Ich traue mich

 

Ich traue mich zu leben.
das Schöne und das Hässliche.
Es darf mich zerreissen und in alle Stücke zerfetzen.
Denn danach wachse ich zusammen
wie ein neuer Mensch.

Und ich werde reicher und schöner
und mutiger und stärker.
Das Leben lässt mich von vorne beginnen,
wie ein kleines Kind.
das nicht weiss, was kommt.

Und jeder, der mir begegnet,
ist eine Umarmung für einen Neuanfang.
Da mag es noch so hässlich ausschauen,
ein neuer Tag bringt neues Leben
und neuen Mut für morgen.

Und es kitzelt mich
wie die Sonne in der Nase.
Dann niese ich vor lauter Überraschung
und schnäuze mich so laut ich kann.
Ich traue mich zu leben.

(Heuer habe ich meinen 2. Gedichtband veröffentlicht)

Zeit haben, nachzudenken.
Zeit haben, Zeit vergehen zu lassen.
Sich Zeit lassen und Zeit einfach sein zu lassen, und dafür die Zeit zu haben.
Was für ein Privileg, was für ein Schatz.

Ich bin so reich, dass ich einfach nachdenken kann, wochenlang (bei manchen Dingen sind es auch schon Jahre geworden), und ich hole mir Informationen, bis ich beginne, etwas besser zu verstehen und dann kann ich nochmal sehr lange nachdenken, bis ich irgendwann entscheide, was ich denke, wie ich handle und leben möchte. Für mich ist es ein ungeheuerer Schatz, mir Zeit lassen zu dürfen, abwägen zu können, still zu halten und dann wieder vorwärts gehen, Bewegung und Veränderung einzuladen, Teil in meinem Leben zu sein. Das unterschiedliche Tempo macht Spaß.

Heuer wurde ganz unerwartet ein Jahr, der Auf und Abs und des Nachdenkens. Ich hatte nicht viel vor: Die Wohnung der Eltern verkaufen, das war’s. Doch plötzlich begann sich die Welt um mich herum zu drehen und nicht ich mich mit ihr, bis ich erkannte, das damit das letzte irdische Band zu meinen Eltern getrennt wurde und es nur natürlich ist, die Balance zu verlieren.

Ich begann also mein persönliches „Mensch-ärgere-dich-nicht“ wieder von vorne:

Wo stehe ich?
Wo will ich hin?
Was sind meine Prioritäten?
Was geht mir ab?
Was passt in mein Leben?
Was nicht?
Was tut mir gut und was nicht?
Welche Dinge sind zum Stillstand gekommen?
Und was muss ich zurücklassen?
Was verändern?
Wovon soll ich mich trennen, Abschied nehmen?
Welcher Neuanfang ist gut für mich?

 

Inzwischen kenne ich das Spiel und weiß, ich bin zu alt, um je ans Ziel zu kommen. Ich glaube nicht, dass ich bis zu meinem Ende auf dieser Erde aufhöre, solche Fragen zu stellen. Es würde mir leid tun, keine Fragen mehr stellen zu können. Ich will weiterhin Dinge ausprobieren, mich versuchen und versuchen lassen, Neues entdecken, und immer, bevor es beginnt, taucht ein wenig Angst auf vor der eigenen Courage. Ich will es testen und ausprobieren und wenn es beginnt einzufrieren, dann beginnt das Ratespiel von vorne.

Ich genieße, Angst zu überwinden.
Es ist ein ganz spezielles Gefühl und
für einen Augenblick gehört mir die ganze Welt.

Heuer habe ich mich dafür entschieden, wieder aufzubrechen. Ich dachte, ich könnte darauf verzichten, wollte Bescheidenheit üben. Bis ich sagte: Pfeif drauf. Ich will wieder reisen.

Nächstes Jahr bin ich mal auf Achse.

Ich habe eine kleinen umgebauten Kastenwagen gekauft, der mir ein zweites Zuhause sein wird. Sein Name ist Jules (französisch ausgesprochen, er kommt ja aus Frankreich). Bunte Vorhänge sind aufgehängt, fröhliche Farben verteilt, lustige Mitfahrer sind eingestiegen (eine Elfe und ein Drache aus der Kinderwarenabteilung, ein Chamäleon und Plastikblumen und kleine Lampions und Fingerpuppen, man weiß ja nie, ob man Lust auf ein Kasperltheater bekommt).

Die Kiste mit den Spielsachen wächst, Farben sind darin und eine Kalimba, ein Daumenklavier, ich habe meine Bibliothek zusammengestellt und meine Musik (inklusive der Andrew Sisters mit ihrem Lied: „Drinking Rum and Coca Cola“). Ich frage mich noch immer, ob ich es je schaffen werde, ein Instrument zu lernen, die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben: Die Ukulele kommt mit (und das Buch „Ukulele für Dummies“). Einen Ferngucker für die Sterne und die App, die mir verrät, welche Sterne ich betrachte, und ein Aufnahmegerät, das mich zwingt, ganz still und starr für einige Zeit zu verharren. So habe ich schon einmal Vögel eingefangen und Bäche und die Wellen am Meer.

Ich habe Gummistiefel gekauft, damit ich auch im Winter am Strand spazieren gehen kann, und mir eine warme Jacke gestrickt. Das Regenzeug ist mit dabei.

Jetzt fürchte ich mich wieder ein wenig vor meinem eigenen Mut, lass die Aufregung wachsen, und frage mich noch immer, soll es Galizien werden oder doch Kalabrien. Davor bin ich noch Haus und Hundehüten, soll niemand sagen, dass die Hinterbrühl keine Reise wert wäre.

Ich bewege mich, ich bewege anderes.

Zuhause schiebe ich Möbel herum, und wenn es nicht passt, schiebe ich sie wieder zurück (begleitet von den passenden Flüchen). Denn, wenn Nachdenken nicht hilft, probiere ich aus. Und niemand hindert mich daran, alles wieder zurück zu schieben. Es bedeutet nichts. Es ist kein Fehler, sondern nur ein Test gewesen. Manche Dinge probiere ich aus, ein Jahr oder zwei, und wenn sich nichts bewegt, wenn alles so ist, wie am Anfang, dann lasse ich es sein. Diesmal habe ich ein halbes Jahr nachgedacht, bevor ich es losließ. Ich wollte etwas bewegen, doch es wollte nicht bewegt sein. Also lass ich es ruhen, ohne zu zweifeln.

Ich bin reich,

weil ich das alles tun kann.

Ein Reichtum,

der nicht mit Geld aufzuwiegen ist.

Ein Reichtum,

der nichts mit Konsum zu tun hat,

sondern in erster Linie mit Tun.

Das Glück beim Konsum von „Egal-was“ hat mich noch nie länger wie 2 Sekunden gefreut, alles, was ich selbst gestaltet, selbst gemacht habe, bleibt in mir, ist ein Teil von mir, der mich reich macht.

Für das habe ich Talent.

Für’s Konsumieren bin ich

entsetzlich untalentiert.

Und das tut mir gar nicht leid.

ps. ich bemerke gerade, wie meine Fröhlichkeit zurückkehrt, die die sich vor gut 10 Jahren immer mehr zurückgezogen hat. Mensch, das ist toll! Wie ultratoll! Wie ungeheuer altmodisch, ganz postfaktisch.

Geborgenheit

Wie seltsam, sich ein Wort zu nehmen, das vertraut wie ein alter Freund ist, und plötzlich ein Gefühl eines ersten Verliebtseins entstehen lässt. Geborgenheit: Geborgensein im Leben – geboren und geborgen – Zuhause im Sein – Sicher ohne Fragen – angenommen im So-Sein – im Sein, wie ich bin – darauf Vertrauen im Guten wie im Schlechten, wissen, in der Not aufgehoben zu sein.

Geborgenheit: bedingungs-, zeit- und raumlos geliebt. Keine Angst zu haben, nicht zu passen, in Vorstellungswelten, in Normen gezwängt, in Rahmen der Vorurteile anderer. Dass ich kein Bild und keine Illusion der Fantasie der anderen mehr bin. Nur ich. Geborgen.

Geborgensein heißt, sicher sein. Dass Verlass ist auf den anderen oder nur mir selbst. Denn die einzige Täuschung wäre, nicht sicher zu sein im Selbersein, im Sosein und sich verirren in den Erwartungen der Welt der Menschen. Geborgen, weil es kein Loslassen des Irrtums geben muss, denn die Enttäuschung ist nur das Erkennen der eigenen Täuschung, die Entdeckung der eigenen Parteilichkeit. Einer Einbildung, die nur in meinem Kopf lebt und nicht in Wirklichkeit. Ich lege das Trugbild zur Seite. Kein Vorwurf wird herausgezogen, weil ich es bin, die sich täuscht. Kein ewiges Schweigegefängnis ob des Anderseins findet Raum. Nur Verstehen der eigenen Verblendung und Akzeptanz der Differenz.

Dann brauche ich dem Überbringer der Botschaft, nicht meine eigene Intoleranz an den Kopf zu werfen. Sie gehört zu mir wie mein falsches Urteil. So hadere ich mehr an mir als am anderen, denn der einzige Betrug, der stattfand, ist jener durch mein Vorurteil. Wie soll ich auf mein Gegenüber sauer sein, wenn ich es bin, die irrte und nicht er, der täuschte. Der Augenschein zeigt nur meinen Fehler, der Schwindel ist nicht der seine, sondern meine Illusion, die mich taumeln lässt.

Geborgenheit weiß nichts davon. Sie vertraut. Ohne Fragen, ohne Zweifel umarmt sie dich und mich. Du bist wie du bist, und ich bin ich, auch wenn wir morgen andere zu sein scheinen, bist immer du, noch immer du und ich noch immer ich. Die Schattenseiten machen uns erst komplett. Geborgen im Schwarzen wie im Weißen, im Kalten wie im Warmen. Sicher in allen Stufen dazwischen.

Akzeptiert, geliebt und ganz gelassen.

Das ist vielleicht die letzte Kunst, den anderen komplett sein lassen. Denn dazu muss ich erkennen, ob meine Erwartungen den anderen drängen, muss ich erkennen, welche Ängste in uns beiden wohnen, die nach Bildern suchen, die wir nicht sind.

Die größte Aufgabe von allen ist, mich zu trennen von meinen Erwartungen.

 

Ruths Wanderlust

Neidvoll begrenzen wir in der deutschen Sprache diese Lust auf das reine Wandern. Wir  denken nicht an das Fernweh, das uns in ferne Länder treibt, ein Fernweh, das uns so vielschichtig erfassen kann. Abenteuer im Kopf wie im Leben werden entzündet durch dieses Wort. Als ob ich das ganze Universum umarme.

Wanderlust: Eine starke Sehnsucht oder intensiver Impuls zu wandern, zu reisen und die Welt zu entdecken.Gebrauchsanweisung_Marie

Wenn ich schreibe, treibt mich diese „Wanderlust“. Die Welt beginnt in mir und führt hinaus in Länder und Berge und hinaus zu den Sternen und den Anfang der Zeit.

Ich wandere durch meine Welten. Ich lasse dich teilhaben an der Entstehung eines neuen Landes, andere sagen Buch dazu.

Die erste Wanderungen führte zu Marie. Hier zum Pfad „Gebrauchsanweisung für Marie“. Mein Roman, der auf Verlagssuche die Welt entdeckt. Eine Geschichte einer späten Liebe.

Der zweite Weg führte zu meinen Gedichten: „Momente des Abschieds.“

Ich habe Gedichte, die ich in den schwierigen Jahren, als ich die letzten Jahre meiner Eltern begleitete, schrieb, gesammelt und mit meinen Bildern zu einem kleinen Büchlein zusammengestellt. Mir ging es wie in der Geschichte, wo jemand ein Glas Wasser in der Hand hält. 5 Minuten waren kein Problem, aber von Jahr zu Jahr wurde es schwerer und am Ende wog das Glas 5 Tonnen.

Das neueste Abenteuer ließ mich zum Pinsel greifen und der Freude am Leben ein Bild geben. P1010425.RW2Ich wollte aus dem ewigen Kaufrausch entkommen und habe begonnen, Lesezeichen für Freunde zu malen (meine Freunde lesen!).  Mehr findest du hier Ruth malt

Ich lade dich ein, mit mir zu reisen.
Herzlich Willkommen!

Ruth Barbara Lotter

Könntest du mich umbringen?

Diese Frage stellte mir meine Mutter bei einem Spaziergang, einige Monaten, nachdem sie ins Altersheim gekommen war, nicht wegen des Heims, nein, wegen ihrer Erkrankung. Sie hatte Alzheimer.

Ich antwortete, dass ich ins Gefängnis müsste, und ob sie dies wolle.

Sie verneinte.

Da meine Mutter eine gläubige Frau war, fragte ich weiter: „Sprichst du mit Gott?“

„Ja.“

„Dann bitte ihn darum, dass du gehen darfst.“

Wir gingen eine Weile neben einander spazieren. Ich war mir nie sicher, wie lange ein Gedanke noch in ihrem Kopf blieb, deshalb wunderte ich mich, als sie Minuten später weitersprach:

„Was soll ich ihm sagen?“

„Das, was du mir gesagt hast.“

Zugegeben, es überforderte mich massiv und ich denke, auch heute noch darüber nach, denn das meiste, das später kam, machte mir ihren Wunsch verständlich. Hatte ich einfach nur Angst einen anderen Menschen zu töten? Ich wusste nicht, was richtig ist.

Doch hier fing unsere Geschichte nicht an.

„Könntest du mich umbringen?“ weiterlesen

Was Glück bedeuten kann

Ein Luxus, den ich mir leiste, ist sensibel zu sein. Das könnte bedeuten, dass ich dir gegenüber sitze, etwas ganz einfaches erzähle, es mich berührt und ich weine. Und alles, was ich hoffe, ist, dass es dich nicht stört. Klar bin ich selbst überrascht. Sie fließen und dürfen da sein und immer wieder bin ich einfach über das Faktum erstaunt, wie leicht ich berührt sein kann.

Welche Ritterrüstung habe ich mir zugelegt, dass Tränen nicht in einfachen schlichten Momenten da sein durften?

Die Hämmer, das große Leid, das irgendwo stattfindet, ist mir meist zu groß, zu unfaßbar, das halte ich nicht mehr aus. Wie soll ich es fassen, wenn mehrere Menschen umkommen, warum auch immer. Und ich mache etwas, das du beten nennen kannst, ich weiß nicht recht, wie sagen, denn beten verbinde ich noch immer mit Kirche. Doch beten ist mehr, reicher, vielfältiger.

Es kann darum gehen, zu bitten, oder zu danken. Es kann ein Moment sein, an Menschen zu denken, die man liebt oder auch nicht, an Menschen, die nicht mehr hier verweilen oder auch an jene, die kommen werden. Ich kann beten, um _MG_0295-001verzeihen zu können oder um Verzeihung zu bitten. Ich kann dankbar sein für den Sonnenschein und ein warmes Bett, dankbar für ein Singen am See und das Zusammensitzen mit Freunden. Ich bin dankbar für meinen Mut, mein Leben zu leben und dankbar, loszulassen, was gehen darf, auch wenn mir das noch immer schwer fällt.

Ich bin glücklich, dass ich manche Dinge an mir so gelassen nehme, auch wenn ich sie alles andere als cool finde, für die ich mich vielleicht auch ein wenig schäme. Ich bin froh, dass ich sie sehe und mich nicht verurteile, dass ich nicht perfekt bin. Dafür bin ich ganz, mit meinen Stärken und Schwächen.

Ich bin dankbar, dass Glück für mich bedeutet, dankbar zu sein. Und manchmal einfach nur, mit dem Rad im Sonnenschein zu fahren. Oder zu merken, dass ich wieder ein Lied vor mir her pfeife. Da könnte mir manchmal das Herz platzen vor Freude. Ich bin dankbar, so viel Zufriedenheit und Frohsinn wieder in meinem Leben zu haben. Ich habe nicht vergessen, dass es nicht immer so war.

Ein Jahr später

Seit einem Jahr gehe ich auf einem neuen Pfad in meinem Leben. Mir scheint, ich habe keinen Stein auf dem anderen lassen und manchmal wundere ich mich, dass es doch noch Vertrautes in meinem Leben gibt.

Es sind zwei Jahre vergangen, seit meine Mutter gestorben ist. Damals sagte ich mir, mach was aus deinem Leben, lebe nicht im Übermorgen und was du da alles hättest machen können, sondern heute, die einzige Zeit, die gewiss ist. 1 Jahr dachte ich nach über das, was mir gefällt, und das, was mir nicht gefällt. Ich wollte wissen, was mir gut tut. Vergangenes verändert sich mit jedem Blick, Zukünftiges kann sich mit jedem Atemzug ändern, denn der Zukunft gehört die Freiheit. Alles ist möglich. Die Verluste der vergangenen Jahre, der Tod meiner Eltern und einiger Freunde, der Abschied von Menschen auf sanfte und weniger sanfte Weise, lehrte mich, da zu sein. Hier ist der Ort, wo ich lebe und nicht die Traumwelt.

Diese Reise begann ich mit dem besten Reisegepäck der Welt, den Dingen, die ich liebe und die mir wichtig sind. Und sie sind mir gute Begleiter, denn ab und zu vergesse ich sie und gehe den Weg nochmal zurück, um sie zu holen. Manchmal bringe ich sie auch zur Reparatur und bitte darum, das eine oder andere zu ändern. Manchmal kann ich den Wegweiser nicht lesen und ich tapse vorsichtig vor und finde mich in einer anderen Landschaft wieder und bin verblüfft, wie schön es hier ist.

Doch ist es intensiver als auf einer normalen Reise, da fremdle ich auch für einige Zeit, aber der Rhythmus findet sich und dann nehme ich Neues leichter mit. Vielleicht unterschätze ich den Zeitrahmen einer Lebensreise, wenn ich ihn mit einer 5-wöchigen vergleiche, wo ich mich nach einer Woche oder zwei gelassen in fremden Landen bewege. Ich teste aus, ich versuche mich in diesem und jenem, manchen Balast werfe ich weg. Anderes kommt hilfreich zur Seite.

Schloßpark in der MorgendämmerungAber es fordert mich auch. Denn ich habe die Verantwortung für mich übernommen. Ich habe gelernt, dass ich mit Laufen nicht schneller voran komme. Manchmal ducke ich mich, bin still, bis sich die Aufregung in mir gelegt hat. Ein ander Mal bin ich überrascht über die spielerische Leichtigkeit, mit der Dinge in mein Leben kommen. Und dann ist es zu viel, anschließend zu wenig.

Wenn auch manches Vertrauen verloren ging, vielleicht auch nur verändert wurde, ist in anderen Bereichen diese Geborgenheit gewachsen, dass alles gut ist, wie es ist.

Du, mein Herz

vielleicht liebe ich dich und du mich.
Vielleicht ist es nur ein Luftschloss,
denn es sind unsere Körper, die nicht von einander lassen können.
Und ich werde wieder zu weinen beginnen.

Vielleicht lerne ich mich nur durch dich kennen.
Vielleicht sind die Tränen bei dir keine bitteren.
Vielleicht zeigen sie mir nur, dass ich sein darf.
Vielleicht sind sie nur das Meer, in dem ich zuhause bin.

Und ich darf schwimmen in ihnen.
Sie wissen nichts von der Verzweiflung ihrer Brüder und Schwestern,
denn sie sind süß.
Schwimm mit mir, mein Herz.

Verdammtes Blau

Sie konnte es nicht glauben. Es war schon wieder passiert. Jemand stahl ihr das Blau. Jenes, mit dem sie vor 30 Jahren einen heimlichen Liebespakt geschlossen hatte. Es war ihre Leidenschaft, da konnte doch nicht schon wieder jemand kommen und es ihr einfach wegnehmen.

Der erste war ein Künstler: Yves Klein, den konnte sie noch verkraften. Der hatte genau das gemacht, was sie in ihrem Kopf wie ein Heiligtum bewahrt hatte. Im Nachhinein war sie froh, es nie versucht zu haben. Sie hätte sich lächerlich gemacht. Als sie zum ersten Mal das Glas mit den ultramarinblauen Pigmente in ihren Händen hielt, wusste sie, damit dürfen nur blaue Bilder gemalt werden. Schatten war das einzige Element, dass in die Farbe eingreifen durfte, ihr Schwung und Leben einhauchen.

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Es fing ganz harmlos an.

Der Tag, an dem das Blau ihr Leben betrat, war einer dieser Tage, diese besonderen, unvergesslichen. Sie waren den ganzen Tag zu dritt unterwegs und als sie am Abend zu ihm ins Studio kamen, waren sie betrunken von den Strahlen des Sommers, der ihre Seelen auf das Nächste vorbereitet hatte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wer von ihnen die Idee hatte. Sie war plötzlich da, angesichts der Farben, des goldigen Abendlichts und der Stimmung, die sie eingefangen hatte. Jeder durfte ein halbes Gesicht des anderen anmalen. Und so wurden aus 2 jungen Frauen und einem Mann, 6 Wesen, ohne Geschlecht, die plötzlich die Bilder des anderen statt ihres eigenen Gesichtes trugen. Es war, als wären unterschiedliche Geister gleichzeitig zum Leben erwacht. Sie hatte damals keine Ahnung von Künstlern, Performances und anderem Tanderadei. Für sie war es einer jener Momente, die zu schön sind, um vergessen werden zu können. Sie wurden zu mythischen Fabelwesen und selbst die Laute, die aus ihren Mündern flüchteten, kamen aus anderen Welten. Unbekannten Wesen. Leben konnte etwas ganz anderes sein. Zwei Seelen in einer Brust, Sechs in Dreien. Als die Dunkelheit die Herrschaft übernahm, sah sie das Ultramarin und fragte, ob sie etwas davon haben könnte. Er füllte es in ein gewöhnliches Marmeladeglas mit goldfarbenem Deckel. So kam das Ultramarin in ihr Leben.

Sie wurde erwachsen, das Glas mit der Farbe trug sie von einer Wohnung zur anderen, als ob eine Farbe allein schon ein Kunstwerk sein könnte. Irgendwann würde sie ein blaues Bild machen, nicht malen, sie wusste nur nicht wie sie Höhen und Tiefen, die Dynamik des Pigments auf eine Leinwand bringen könnte. Bindemittel waren nur ein anderes Problem, das noch viel weiter weg war. Sie vergass die Bilder. Sie war vernünftig und das blaue Glas fest zugedreht, um ihre Träume gefangen zu halten. Manchmal dachte sie, dass sie die Einzige wäre, die das Abbild, das die Farbe auf ihrem Sehnerv hinterließ, spüren konnte. Keiner, den sie traf, verstand, worüber sie sprach, wenn sie von ihrem Blau zu reden begann. Ihren Freunden fiel nie auf, dass ein Glas mit gefangenem Blau zwischen ihren Büchern stand.

Sie wusste nicht, dass andere ihre Faszination teilten. Nein, nicht teilten, genauso verfallen waren. Als es zum ersten Mal passierte, dachte sie, er hätten ihr das Blau gestohlen. Es brauchte eine Weile, bis sie seine Begeisterung nicht als Raub, sondern als Gewinn betrachtete. Als ihr das klar wurde, wäre sie am liebsten herumgelaufen und hätte andere rumgewirbelt vor Freude.

In den dreißig Jahre dazwischen ist bei einem ihrer Umzüge, das blaue Marmeladeglas verschwunden. Schon lange dachte sie nicht mehr über ihr Blau nach. Bis die Ausstellung mit den Werken Yves Kleins in ihre Stadt kam.

Der Tag fing harmlos an, sie ahnte nichts. Gäste waren zu Besuch und sie stellte ihnen frei, wo es hingehen sollte. Moderne Kunst. Sie freute sich, denn dort gab es immer etwas Unerwartetes. Sie liebte Überraschungen. Yves Klein, noch nie gehört. Je weniger sie wusste desto besser. Sie las auch keine Reiseführer, bevor sie woanders hin fuhr, um sich nicht des Staunens zu berauben.

Sie lösten Eintrittskarten und als  sie in den ersten Raum gingen, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. Da waren die Bilder. Ihre Bilder. Echt. Die, die immer in ihrem Kopf zuhause waren. Sie hätte sie angreifen können. Sie zitterte innerlich. Der Schwindel legte sich nicht. Sie verstand nichts mehr. Konnte es wirklich sein, dass sie etwas im Nachhinein neu erfinden konnte? Die Zeiten verschwommen, zerstoben in alle Richtungen. Klein hatte diese Bilder gemalt, als sie gerade gehen konnte. Die Bilder in ihrem Kopf entstanden Jahre später und nun stand sie vor ihnen, ein halbes Menschenleben später. Sie durfte nicht laut schreien und jubeln. Am liebsten wäre sie zu jedem einzelnen Besucher hingelaufen, um ihm ihre Geschichte zu erzählen, die ja gar keine Geschichte sondern nur ein Gefühl, ein Geschmack, eine Erinnerung. Ihre Emotionen spielten mit ihr, sie hätte weinen und lachen können. Niemand hätte ihr geglaubt, wenn sie gesagt hätte: Das sind meine Bilder. Ich habe sie gemalt vor vielen Jahren. Er hat genau das umgesetzt, was sie plante. Nur zwanzig Jahre früher. Lange bevor sie in ihrem Kopf zu leben begannen.

Ihre Freunde sahen sie zweifelnd an. Weshalb sich wegen blauer Bilder aufregen? Sie tat, was sie immer tat. Sie wurde äußerlich ruhig, dämpfte ihre Stimme und fand sich damit ab, dass es niemanden interessierte, dass sie zwanzig Jahre, nachdem Yves Klein solche Bilder malte, die Idee hatte genau solche Bilder zu malen. Keiner würde ihr glauben, dass es sich hier um eine Synchronizität handelt, die die Zeit überwunden hatte. Sie war sich sicher, dass genau das passiert war. Es wärmte sie, dass es einen gab, der beim Anblick dieser Farbe wie sie empfand. Er hatte es zum Programm gemacht, diese Farbe zu lieben. Es war ihr Geheimnis. Das verband sie mit Yves Klein, Jahrzehnte nach seinem Tod. Eine Nähe, die keine war. Nur eine gemeinsame Begeisterung. Mysterien. Keiner konnte ihr dieses nehmen. Im Stillen war sie froh, dass er schon gestorben war. Sie hätte sich gemeldet, sie hätte ihn treffen müssen, sie hätte ihn nur mit offenem Mund gegenübertreten wollen. Nichts sagen, nur in seine Augen blicken. Keiner würde ihr glauben, dass sie nichts von Yves Kleins Blau gewusst hatte. Niemand würde verstehen, warum es Herzklopfen bei ihr auslöste.

Ihre Aufregung legte sich. Wieder vergingen Tage, Monate und Jahre. Sie gewöhnte sich daran, dass es Bilder gab, die ein anderer gemalt hatte, die Jahre nur in ihrem Kopf existierten. Denn es gab nichts anderes, mit diesem Blau zu tun, als solche Bilder zu malen.

Bis zu jenem Tag, als sie vor einer Auslage stehen blieb. Das Geschäft hatte ein Auslage ganz in Blau und mitten drinnen lag ein Buch „Nur Blau“ von Bernhard Aichner. Auf dem Titelblatt war genau ihr Blau, ihre Pigmente.

Nicht schon wieder, nicht noch einer, der ihr Blau stiehlt. Einer ist ja zu verkraften, aber ein Zweiter? Es kam schlimmer. Sie hatte den Buchladen betreten, das Buch ohne darin herumzublättern gekauft und war auf schnellstem Wege nach Hause. Sie begann zu lesen und er schrieb von Menschen, die genau wie sie von diesem Blau gefangen genommen waren. Zwanzig Seiten am Stück, mehr konnte ihr Herz nicht verkraften. Und seine Worte. Immer wieder fragte sie sich, ob andere nur annähernd verstehen, was dieses Blau macht. Wie das Blau einen frisst. Nicht schmerzhaft. Sie wird verschlungen, weil sie wehrlos ist. Er schreibt. Auch er zieht hinein. Sie weiss nicht, ob er Worte aus ihrem Kopf gestohlen hat. Wie Yves Klein das Blau.

Sie ist nicht allein. Ein eigenartiges Gefühl.

Dreißig Jahre später

Uralte Gefühle ließen einen eiskalten Schauer über ihren ganzen Körper laufen.

Jahrzehnte alte nackte Wut über die Ignoranz Michaels brach hervor. Vor dreißig Jahren hatte sie weinend seine Nichte in den Schlaf geschaukelt. Die Kleine kannte sie nicht gut und als sie mitten in der Nacht aufwachte und sich mit ihr, einer fremden Frau, wiederfand, heulte sie los. Maria versuchte alles, was ihr gesagt worden war, frische Windeln, ein Fläschen zum Trinken, in den Arm nehmen, auf und abgehen, ein Lied singen, doch erst die Stimme ihres Mannes, die so sehr der Stimme seines Bruders, des Vaters der Kleinen, glich, schaffte es, das Baby zu beruhigen. Nachdem er 2 Minuten beruhigend auf sie einsprach, wurde ihm langweilig und er begann Schäfchen zu zählen. Eins, zwei, drei, vier… Als er zwanzig erreichte, begann sie wieder zu weinen. Das monotone Zählen war keine Geschichte, das war ein automatisches distanziertes Gebrabbel und das winzige Mädchen wusste es. Ein kleiner Erdenbewohner spürt, wenn es nicht ernst genommen wird. Also stand Maria wieder auf, denn Michael las unbeeindruckt den begonnenen Artikel weiter. Sie hielt die Kleine im Arm und sang Gute-Nacht-Lieder, während sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Es war drei Uhr früh. Michael schlief leise schnarchend, während sie und die Kleine leise weinend warteten, dass die Eltern noch vor Morgengrauen heimkamen. Diese Nacht war lang.

Das war lange her und sie hatte Michael nie wieder vertraut. Sie hatte Angst, mit ihm gemeinsam ein Kind groß zu ziehen. Diese Geschichte war vergessen. Sie war schon lange geschieden, sie konnte keine Kinder mehr bekommen, auch damit hatte sie abgeschlossen. Doch heute hatte sie mit ihm telefoniert und er hatte erzählt, wie er seinen Sohn in den Schlaf gesungen hatte und meinte, was für ein wunderbarer Vater er sei.

Als Tränen ihre Augen verschleierten, wusste sie zuerst nicht warum, bis sie ihre Wut zu spüren begann. Er war immer gut, wenn es darum ging sich auf die Schulter zu klopfen, während er ihr noch immer sagte, welche Fehler sie gemacht hatte. Es war Zeit.

Frühjahrsputz

Vor mir stehen etliche Kisten mit Briefen, Tagebüchern, Notizen. Ich habe sie geordnet, 2 Tage lang, und gelesen vielleicht 10%. Einiges trieb mir die Tränen in die Augen, aber ich bekam auch meine schönsten Geschenke zu sehen: Liebesbriefe an mich.

Gelassenheit ist wirklich ein Geschenk des Alters. Fragte ich früher: „war das alles?“, geht es heute, nur um das Bewegendste, Berührendste. Ich brauch keine hunderten Liebesbriefe, sondern nur den richtigen. Und ich verstehe heute endlich, warum mir der eine so im Herzen blieb.Lotus

„Ich denke an ein verstrubbeltes, legeres, hintergründiges, strahlendes, schimmerndes, verzwicktes, verdrehtes, perlendes, blumiges, klingendes, lachendes, hübsches, blauäugiges, originelles, frisches, tanzendes, hüpfendes, lesendes, brillantes, mit Flittern übersätes Mädchen namens Elisabeth, das ich gern habe, auch wenn ich mich manchmal nicht traue es zu zeigen.

Alles Schöne und Gute wünscht Dir Paul, der froh ist, dich zu kennen.

P.S. Du bist ein wunderbarer Mensch. Du bist O.K.“

Es waren nicht viele Briefe, aber die gingen ohne kleinste Umwege direkt in mein Innerstes:

„Ich möchte, und so glaube ich auch Du, ausbrechen aus dem üblichen Trott, sei es in der Schule, Arbeit, in Beziehungen zu Freunden, und, was viel, viel wichtiger ist, wir möchten ändern und erneuern. Das ist sicher keine schlechte Entwicklung, auch wenn es uns oft sehr schwer fällt und wir oft genug daran sind, zu kapitulieren. Der Mensch braucht eine Portion Wahnsinn, damit er den Mut hat, auszubrechen, um Lebens- und Liebenswertes auf die Welt zu bringen.“

Der spricht von mir, von uns, von dem, was uns verbindet. Er spricht von Hoffnungen und Träumen (und er spricht noch heute davon, auch wenn er sie zu leben nicht wagte und immer vermisste). Den kann ich jahrzehntelang nicht hören und er schreibt und meine Knie sind immer noch weich. Was hätten wir doch tun können. Wir wagten es nicht. Und heute? Nein ich will ihn nicht wegreißen von seiner Frau und seinen Töchtern. Auch wenn mein Herz lauter pumpert als jeder Hubschrauber über meinem Kopf, wenn unsere Seelen miteinander sprechen. Ganz leise flüstern sie vom Wahren, vom Wichtigen, von dem, was die Welt zusammenhält.

Statt dessen wählte ich den Wörterzauberer, der mit Wörtern jonglierte und mich nicht sah. Ich wurde austauschbar mit jeder Frau.

„Was ich alles hätte werden können, wäre ich nicht das geworden, was ich bin für dich.

Wäre ich sportlicher gewesen, ich hätte Pilot werden können mit meinem Blick für die Landschaft und meinen fast tauben Ohren.

Wäre ich schlanker geworden, ich hätte Rocknrollsänger werden können mit meiner Angst, die mir so im Nacken sitzt.

Wäre ich als Kind reicher Eltern geboren worden, ich hätte dir ein Flugzeug kaufen können, jenes von dem ich dir schrieb vor der Zeit.
Halsüberkopfakrobat hätte ich werden können
oder
Märchenerzähler
oder
dramatischer Liebhaber
oder
Fernschreiber in Alaska
oder
Archäologe in entfernterer Geographie.

Aber ich bin das geworden, was ich geworden bin, und bin das geworden, was ich sein wollte, und das bin ich jetzt für dich und kann an nichts mehr denken als: ich bin es für dich geworden. Ich will es für dich sein. (Und meine Angst vor Berührungen, die sich löst wie unter der Sonne, deiner) und wenn ich schreibe ES TUT MIR WEH, DICH NICHT ZU SPÜREN, das tut weh.

Verrückt bin ich und an Mauern stehen Telefonnummern verbotener Schönheiten, die ich nicht begehren kann, nach dir, dem Paradies, dass das andauert, ich kann es nicht verlassen, ohne zugrunde zu gehen.

Und die Angst, dass du mich verlässt, ist schon ein Zugrundegehen. Meine Ängstlichkeit vor schönen Männern, die sitzt tief, so tief wie ich tief liebe. Dass es dich gibt, ist ein Geschenk, wie ich dich liebe, vom ersten Dichsehen bis zum letzten Buchstaben dieses Papiers, der folgenden Papiere.

Ich kann dir nichts bieten als meine Hässlichkeit, aber ich kann dir immer wieder zeigen, wie sehr ich dich liebe, du mein Herz, meine einzige Frau.

Ich liebe dich.“

Kein „ich sehe dich“, da ist kein „Wir“. Es ist blanke Bewunderung. Sie machte mir Angst. Nackt fühlte ich mich, durchschaut, gläsern und es verunsicherte mich, nicht mehr wissend, wer ich bin, denn da war jemand, der um mich wusste. Wusste, was ich begehre. Und ich wusste nicht mehr, wer ich bin, da ganz tief drinnen. Und es gab niemanden, der sah, was ich verloren hatte. Ich wurde beamtete Ehefrau.  

Ich erkannte nicht, das Bewunderung Distanz errichtete zwischen uns. Denn da war kein „wir“, kein wohin geht dein Streben, unser Streben. Kein, ich versuche dir den Weg zu deinen Sternen zu weisen. Und der Raum zwischen uns fühlte sich irgendwann an wie Verachtung und ich wurde ersetzt mit der nächsten Prinzessin. Wie traf mich das Wort, mit dem er einst mich benannte. Der wollte nicht ausbrechen mit mir, wollte keine Welten erobern, und nicht verrückt durch’s Leben tanzen. Der träumte ganz andere Träume. Seine.

Ich brauchte lange, es klar zu sehen.

Großreinemachen.

Feenfabeln

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Sie liebte Märchen, alle Märchen, nicht nur jene, die sie als Kind erzählt bekommen hat, auch jene, die sie jetzt verführten, umgarnten, verzauberten. Fairy Tales, die Geschichten der Elfen, der Feen, Hexen und Zauberinnen, es waren die Erzählungen der magischen Frauen.IMG_9653
Für sie waren es schon lange keine mystischen Wesen mehr, sondern Gestalten, die zwischendurch blicken konnten, zwischen den Tönen hören, zwischen den Strahlen sehen, zwischen den Düften riechen und zwischen den Worten verstehen konnten. Deshalb waren sie fähig, Parabeln zu erzählen, um von den Zwischenwelten zu berichten. Jene anderen wussten nur nicht, dass jede Geschichte in den Köpfen entstand und niemand die Worte genau wie ein anderer verstand. Jede Geschichte wurde zu tausend Geschichten. Jeder, der sie hörte, alle, die sie lasen, nahmen sie mit ihrer stillsten, ganz eigenen stillen Seele auf.

Sie erinnerte sich, als sie einmal ein Wortmeer vor anderen entstehen ließ und plötzlich einer rief: „Genauso war es, ich habe es ganz genauso empfunden. Ich kenne dieses Gefühl der Weite und Enge, des Lautseins und der Stille.“ Und sie lächelte, denn sie wusste, er hatte seine eigene Geschichte gefunden und die Begeisterung, sich selbst entdeckt zu haben, ließ ihn jubeln. Sie beobachtete, wie er zu springen und zu hüpfen begann, weil er seine Aufregung nicht mehr zügeln wollte. Sie überlegte, doch Unsicherheit breitete sich über sie aus. Ihr war nicht klar, ob sie ihm von seiner magischen Erfahrung, die er gerade gemacht hatte, erzählen oder ob sie ihn in dem Glauben ruhen lassen sollte, Teil eines Größeren zu sein. Er war in eine Zwischenwelt gerutscht, nur wusste er es nicht. Diese Welt zwischen Tag und Nacht, zwischen Leben und Tod, die Türen öffnete in Regenbogenkomödien und Schwarzweißdramen.

Sie wollte ihm nicht verraten, dass alle aus der Ganzheit gefallen waren, und seitdem jeder, immer nur seinen privaten Teil der Einheit sehen konnte. Nur in den Zeiten dazwischen war es möglich, eine Ahnung von der Vollkommenheit zu bekommen. In Märchen war der Schritt dorthin ganz klein, denn die Reise der Fantasie hat dort begonnen und alles, was es dort zu erleben gab, war Heimat des Irrealen. Nur wenige wussten, dass das Irreale nur die Rückseite des Realen war und sie nur gemeinsam ganz sein konnten. Die Grenzen hatten zwar Löcher, aber das Gefängnis aus Fleisch und Blut hielt die reale Welt aufrecht. Warum sollte ein Traum weniger wahr sein, als das Tagwerk? Vielleicht war das, was sie jeden Tag unter dem Scheinwerferlicht der Sonne umgab die Illusion und der Traum die Wahrheit. Vielleicht war oben unten und rechts war links. Vielleicht war die Zeit Illusion und der Raum eine Chimäre. Vielleicht war die Seele nur ein anderes Wort für alles Geistige, das getrennt voneinander, neue Erfahrungen sammelte.

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