Freundlich werde ich immer wieder gefragt, doch in meiner Sprachlosigkeit der französischen Sprache gegenüber, bleibt mir nur ein “Bon Jour” und ein freundliches Lächeln, das mit “Bon Jour, Madame” erwidert wird. Oder einem Bonne Journée, das wie mir google translate verrät, nicht gute Reise sondern, ebenfalls Guten Tag bedeutet. Merci, ist eindeutig die falsche Antwort und erklärt mir nun auch die fragenden Blicke. Man lernt nie aus.
Kaum bin ich im Ausland wird die Schublade ganz klar und einfach. Ich bin aus Österreich, also Österreicherin. Das reicht für die erste Annäherung und ich stecke in einer Box und habe keine Ahnung, was noch alles in dieser Box mit drinnen steckt. Aber Lucille, meine treue Twingine, hilft mir sicherlich. Österreicherin in einem französischem Auto, das kann nicht schlecht sein. Aber ich bin hier vielen freundlichen Menschen begegnet, die meist genauso verzweifelt wie ich schauen, wenn’s ums kommunizieren geht. Tja, wer weiß schon was Wäschetrockner auf englisch heißt. Naja, ich finde 6€ für Wäschewaschen +2€ für den Trockner überzogen und habe mir eine Wäscheständer ausgeborgt, das Waschbecken tut’s auch.
Ja, die Schublade für Touristen ist schon etwas eigenes. Zugleich wird mir bewusst, wie viel ich in letzter Zeit über Authentizität gelesen habe. Mein buntes Gewand hat auf jeden Fall nichts damit zu tun.
Ein hohes Lob gilt jenem, der authentisch ist. Wie entsetzlich, wenn ein anderer so gar und gar nicht authentisch ist. Die anderen stellen gerne die Authentizität eines anderen fest. Derjenige, der so mit Lob ausgestattet ist, wird dabei nicht gefragt. Es gilt, was andere erkennen können, nein, was sie feststellen.
Doch wie kann einer wissen, wie echt der andere ist?
Zur Übung gehe ich einmal vom Gegenteil aus.
Jemand stellt fest, du bist nicht du. Du bist nicht authentisch. Weil?
Ja, weil, der andere dich nicht mehr kennt. Er stellt dabei nicht in Frage, vielleicht selbst eine Illusion von dir errichtet zu haben. Könnte er einem Trugbild erlegen sein, das der andere gar nicht geschaffen hat, sondern dass seine eigene Fantasie kreiert hat? Nur bin ich bislang niemandem begegnet, der sich getäuscht hat, sondern es war der andere, der ihn absichtlich in die Irre geführt hat, derjenige, der nicht authentisch ist. Und es ist unglaublich welchen Zorn dies hervorruft. Wie immer ist es leichter auf den anderen wütend zu sein, als sich selbst einzugestehen, sich ein falsches Bild gemacht zu haben.
Wie hasste ich immer all die Podeste, auf die ich gestellt wurde, denn von vielen wurde ich später mit einem Tritt in den Hintern weit hinunter gestoßen. Ich habe das Podest nicht aufgestellt. Doch ich spürte es. Und ahnte den tiefen Fall schon viel früher.
Im Gegensatz dazu ist der authentische Mensch, jener der Bewunderung verdient, der aufrecht ist. Dessen Schein und Sein stimmen miteinander überein.
Heute hat mich plötzlich das Mitgefühl mit allen erfasst, die nicht als authentisch gelten. Nicht, weil es mir selbst einmal zum Vorwurf gemacht wurde, sondern weil ich plötzlich verstand, dass ich niemanden kenne, der absichtlich nicht authentisch ist. Niemand will die ganze Zeit andere täuschen. Ich spreche jetzt vom privaten Kreis: Familie und Freunde. Absichtlich wäre das wohl zu anstrengend. Wie ist es, wenn als Schein eine Maske der Fröhlichkeit aufgesetzt wird? Was bedeutet es, wenn jemand nie das Vertrauen entwickelt hat, in seiner Traurigkeit, Verletzlichkeit oder Schwäche angenommen zu werden? Oder wenn er es endlich einmal wagte, gleich wieder zurecht gewiesen wurde? Oder er jene Menschen verlor, denen er zu trauen glaubte? Denn in seiner Verletzlichkeit war ja nicht mehr er selbst. (Ich gehe jetzt nicht auf Heiratsschwindler und ähnliches ein, da würde mir noch genug einfallen.)
Wer ist nun mutiger? Jener, der immer authentisch war, weil er aus der Erfahrung schöpfte, so auch angenommen zu werden oder der andere, der einmal wagt, aus den von ihm erwarteten Bahnen auszusteigen?
Ist das nicht ungerecht?
Ich habe mich auch in Menschen getäuscht. Doch mir war bewusst, dass mein Wunschbild zerstört wurde. Manchmal sagen Menschen das eine und meinen das andere. Vielleicht ist ihnen der Widerspruch nicht einmal bewusst. Aber es liegt an mir, mein Bild zu korrigieren. Es ist nicht mein Job, den Widerspruch aufzulösen. Es kann Gründe geben, manchmal erkenne ichbsie, manchmal nicht.
Sind wir Menschen tatsächlich fähig, unser Handeln unabhängig von anderen auszuführen? Wer handelt tatsächlich aus sich heraus? Wer ist ohne Wunden, die Narben zurückließen? Was haben wir zuhause gelernt? Denken wir darüber nach, wie unser Agieren geprägt ist, von dem, was wir von anderen gelernt haben? Wer kennt alle seine Stärken und Schwächen? Wer weiß, wie er in einer Situation reagiert, die er noch nie erlebt hat?
Ich habe als junger Mensch darüber nachgedacht, ob ich fähig wäre, jemanden zu lieben, der sein Ich verliert, der mich nicht mehr kennt. Ich fragte mich, ob es noch Liebe oder doch mehr Pflichterfüllung sei. Ich wusste es einfach nicht. Jetzt habe ich es erfahren dürfen.
Meine Mutter bekam Alzheimer und sie wusste lange nicht mehr, wer ich bin. Seit ich beim ersten Mal vor 5 Jahren einen Stich in mein Herz spürte, weil sie mich für jemand anderen hielt, fragte ich nicht mehr und vermied später auch nur Andeutungen, ob sie mich je wieder erkannte. Wie oft wurde ich gefragt, ob sie mich noch erkennt. Ich weiß es nicht. Was blieb, waren unsere Gefühle und zwar jene, die genau jetzt da waren, in jenem Moment, als wir uns sahen. Die waren authentisch, alles andere nur Tand.
Jetzt ist sie gestorben und ich habe mich bedankt für die vielen Dinge, die sie mich gelehrt hat. Das ist vielleicht das Besondere an dieser Krankheit, sie lehrt die anderen sehr viel. Meine Mutter wurde mein größter Lehrmeister, mein Lama, was das Leben im Jetzt betrifft. Ich lernte, ihr zuzusehen, lernte, was sie mochte. Ich durfte Dinge tun, die sie mochte. Das durfte ich auch in den letzten Stunden mit ihr teilen. Gibt es einen schöneren Abschied? Noch nie hatte ich in meinem Leben das Gefühl, etwas so richtig gemacht zu haben. Bei meiner Mutter war kein Schein mehr, es war alles im Sein. Ich kenne niemanden, der so authentisch war oder ist.
Das wahre Ich. Welch eine Aussage! Wer kann von sich wirklich sagen, das bin ich. Ich halte es lieber mit „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
War das, was ich am Ende sah, das wahre Ich meiner Mutter? Ich weiß es nicht, so wie ich es früher auch nicht wissen konnte. Ist ihr wahres Ich doch jenes, mit dem ich in Frieden bin, das ich liebe ohne irgendwelche Bedingungen und ohne Wertungen? Auch wenn sie selbst nicht mehr weiß, wer sie ist.
Überall sehe ich Menschen, die wissen. Während ich über alles, was ich sage, diskutieren möchte, weil ich nichts weiß. Feststellungen, Behauptungen, Rechthaben, selbst „Weise-sein“ erscheint mir eine große Illusion zu sein. Sie sind so klug.
Ich weiß, dass ich nichts weiß.