Heraustreten aus dem Alltag, ein Schritt in eine andere Richtung setzen, reisen, als beste Übung einen Standpunkt zu verändern. Aber hast du schon mal versucht, tatsächlich in einer bekannten Umgebung einen Ort zu suchen, von dem aus alles anders aussieht?
Als mir das Wort Blickwinkel in den Sinn kam, dachte ich zuerst an mein Wohnzimmer. Ich habe vor wenigen Tagen mein Zimmer quasi um 90° in Uhrzeigerrichtung gedreht. Der Lehnsessel steht, wo das Sofa stand, das niedere Regal wanderte mit dem Sessel mit. Die Sonne blendet mich jetzt anders, sie kommt heimlich über die Schulter zu mir, der wilde Wein vor meinem Fenster kann sich nicht mehr verstecken. Das Zimmer sieht anders aus, aber das ist nicht alles. Ich höre andere Dinge an der Stelle, wo ich jetzt sitze. Manche Dinge sind lauter geworden, weil eine Mauer die Schallwellen jetzt zu mir her wirft. Früher wurde sie so oft reflektiert, dass sie sehr leise wurden. Es kommt mehr Welt herein zu mir.
Plötzlich tauchten mehr und mehr Erinnerungen, wo mein Blickwinkel ein anderer wurde, auf: die Fahrt in der Kabine eines LKWs beim Autostoppen, als wir plötzlich über all den anderen Autos schwebten. Oder in Australien auf der anderen Straßenseite zu fahren. Oder der Blick über Dächer von Wien eine Stadt, die ich schon so lange kenne, und eine Freundin führt mich hinauf aufs Dach und plötzlich wurde die Stadt eine ganz andere. Vertraut und doch ganz neu.
Doch am meisten berührte mich, als ich daran dachte, wie ich mich als Ameise oder Regenwurm fühlte. Das hatte ich zuerst gar nicht im Sinn. Es war in Minnesota, an einem heiligen Platz der indigenen Bevölkerung, ein Platz auf dem Frieden herrscht, wo die unterschiedlichsten Stämme zusammenkommen waren, um Stein für ihre heiligen Pfeifen abzubauen. Noch heute wird dort gegraben, nur Indigene dürfen mit einer Genehmigung Stein abbauen. Pipestone, Pfeifenstein heißt dieser Ort. Die Steinbrüche sehen ungewöhnlich aus, denn jene, die ich kenne, sind riesige Löcher von Maschinen gemacht, entweder in Berge hinein oder riesige Gruben, die später Baggerseen werden. Die Steinbrüche in Minnesota wurden mit der Hand geschlagen. Durch metamorphen Quarzit, der 1,8 Milliarden Jahre alt ist, zum Catlinit, der in wenigen dünnen Schichten zwischen dem Quarzit vorkommt. Quarz ist hart, sehr hart sogar, schwere Knochenarbeit. Der rote Catlinit, ein weicher Stein, leicht zu bearbeiten, um schöne Pfeifen zu schnitzen. Und nur in den heißesten Monaten des Jahres ist es möglich, ihn abzubauen, denn sonst, steht diese Schicht unter Wasser.
Der Ort steht 1937 unter Schutz: Pipestone National Monument. Seit dem dürfen sie wieder den Stein abbauen. Ein gerade mal 1 km langer Weg führt zu den Steinbrüchen, durch die Prärie, zu einem Wasserfall und zurück zum kleinen Museum.
Als ich losging und sah, dass keine Menschen um mich herum waren, schlüpfte ich bei einem Einstieg in den Steinbruch hinein. Die Humusschicht dort war etwa einen Meter dick. Ich setzte mich in diese Grube, umgeben von Erde, die von Graswurzeln durchdrungen war.
Es war stiller dort als oben, das Rauschen der Blätter, das entfernte Gemurmel der Menschen verschwand weit in der Ferne. Ich hatte das Gefühl, ich könne der Erde beim Atmen zuhören. Plötzlich war ich klein, ein Käfer vielleicht.
Geschützt und umarmt.
Nicht nur der Himmel stand behütend über mir. Auch das Gras wehrte alles ab.
Jeder Grashalm erschien mir wie ein Bollwerk vor feindlichen Angriffen. Die Wurzeln, die mindestens so tief hinabreichten, wie das Gras oben der Sonne zustrebte, gaben auch mir halt. Egal, was passierte, kein Brand konnte letztlich das Gras vernichten.
Das Feuer gehört zur Prärie wie das Gras. Schon wenige Tage, nachdem oben alles vernichtet wird, laden die Wurzeln junge Grashalme ein, nach oben zu streben. Sie lassen den Frühling einfach wieder beginnen, sie pfeifen auf Jahreszeiten und sagen, lasst uns wachsen. Und ich staune, über die Dicke des Humus, der durch das Gras festgehalten wird.
Als dieser Zusammenhalt des Bodens mit dem Gras vergessen wurde, und die Einwanderer glaubten, hier fruchtbares Ackerland gefunden zu haben, lehrte ihnen das Land, das die Aufgabe der Prärie eine andere ist. Während der Weizen der Farmer nur den einen Wert hatte, das Korn gedeihen zu lassen, wusste das Präriegras von Dürren und Zeiten des Schlafes, tief unten. Mit seinen tiefen Wurzeln, die den Boden zusammenhielten und seinen Halmen, die den Staub auffingen, hatten sie die oberen Bodenschichten festgehalten und vor Erosion bewahrt. Der Weizen der Farmer vermochte dies nicht und als in den 1930er für Jahren die Dürre kam, fegte der Wind alles fruchtbare Land hinweg. Das Getreide der Farmer war dieser Aufgabe — dem Schutz des Bodens — nicht gewachsen.
Vielleicht hast du noch nie von den Stürmen gehört, aber vielleicht kennst du Dorothy, die über die weite graue Prärie blickt, bevor der Wirbelsturm sie in ein anderes Land trägt und sie den Weg zum Zauberer von Oz sucht.
Wir vergessen, dass der Boden, den wir vielleicht auch mal Dreck nennen, lebendig ist: mit Wasser, Luft und Lebewesen durchsetzt. Durch Wetter und Zeit und andere Lebewesen ist so fruchtbares Land, das nicht nur den Pflanzen Heimat ist, entstanden.
Boden ist der unterschätzte Partner unseres Lebens, er ist unsere Lebensgrundlage, weil er Heimat der Pflanzen ist.
Durch Raum und Zeit geboren, mit Hilfe von Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff, dem Regen und der Sonne, der Kälte und der Hitze verändert, zusammen mit den kleinsten Organismen: den Pilzen und Algen, den Flechten und Bakterien umgewandelt, wird er die Basis für uns und das Leben auf diesem Planeten.
Perspektivenwechsel!
Wie findest du eine Möglichkeit deinen Blickwinkel zu verändern?
–
ps. willst du mehr Bilder von Pipestone sehen, die findest du hier.