Als ich am Hemmaberg die Ausgrabungen besichtigt hatte, fiel mein Blick auf eine riesige Linde. Bäume sind für mich sehr vertraute und doch sehr seltsame Wesen. Denn selbst die größten — und ich habe sehr große Bäume in Australien und Nordamerika gesehen — geben mir einen heimeligen vertrauten, gerade zu familiäres Gefühl.
Und so stand ich unter dieser Linde und sagte zum Mann neben mir: “Ist sie nicht wunderschön?” Und er meinte nur: “Naja, gewaltig”. Wie seltsam. Ich sage doch auch nicht zu einem alten Menschen gewaltig, sondern auch wunderschön. Ich mag es, die Reife, die Erfahrung, die Spuren des Lebens zu sehen.
Wieder mal bin ich vor einem Baum gestanden, also ob ich noch nie einen gesehen hätte. Aber ich glaube, es war tatsächlich meine erste sehr alte Linde und der erste so alte Baum hier in Europa, den ich berührte.
Die Linde galt immer schon als ein besonderer Baum.
Die Germanen sahen in der Linde Göttin Freya, die Göttin der Liebe und der Ehe (Herrin der Erde) bzw. Frigga (Muttergöttin und Patronin von Geburt und Fruchtbarkeit). Knapp nach 500 n.Chr. kamen die Ostgoten — also Germanen — hierher. Sie waren arianische Christen — doch dazu später. Ihr Gräberfeld liegt am Fuße des Berges.
In dieser Tradition — nämlich der weiblichen Gottheiten bzw. Heiligen finden sich Linden vor Klöstern und Wallfahrtsorten, da die früher heidnischen Heiligtümer nun Maria, der Mutter Gottes, gewidmet wurden.
Die Linde gilt auch als Ammenberg, der die Eichen um sie herum schützen soll.
Doch vor den Ostgoten kamen die Kelten. Um ca. 300 v.Chr. ließen sich Kelten am Fuße des Hemmabergs nieder. Die Ortschaft wurde nach der keltischen Gottheit Iouenat benannt, von der nun das ganze Tal seinen Namen bekam: der Name des Jauntales hat einen keltischen Ursprung. Als römische Station wurde das heutige Globasnitz Iuenna. Das Heiligtum der Kelten lag wahrscheinlich ebenfalls am Hemmaberg, der bis in das 17. Jahrhundert auch Jaunberg genannt wurde.
Das weiche, helle Holz der Linde bietet sich hervorragend für Schnitzereien an. Wer selbst einmal geschnitzt hat, weiß es zu schätzen, wenn es nicht gar so schwer geht. Der Bast der Linde ist sehr zäh und kann deshalb sehr gut zum Flechten verwendet werden. Die Blüten der Linde — im Schatten getrocknet, wie viele andere Tees auch — ist ein altes Heilmittel gegen Husten, Verschleimungen. Seine entzündungshemmenden Stoffe helfen bei Erkältungen und Entzündungen jeder Art und schießlich soll er auch beruhigend wirken. Wem das egal ist, der erfreut sich einfach am Lindenblütenhonig.
Die Kelten glaubten, dass unter Linden das Licht der reinen Wahrheit an den Tag kommt. Das gleiche galt für Quellen und so ist es nur schlüssig, dass die Rosalienquelle und diese tausendjährige Linde am Hemmaberg stehen. Denn auch die Quellen sollen dich reinwaschen. Doch nicht nur für Kelten war die Linde ein Ort, wo Recht gesprochen wurde.
Das Thing, das Volksgericht der Germanen, fand unter Linden statt. Nicht nur das jeder dort die Wahrheit sprechen würde, auch Gnade fand man unter einer Linde. Die Linde macht empfindsam und nicht ohne Grund war es ein Lindenblatt, dass die Stelle am Körper Siegfrieds in der Nibelungensage bedeckte, wo er verletzlich blieb und schließlich getötet wurde.
Wer nun glaubt, dass damit alles über Linden am Hemmaberg gesagt ist, täuscht sich. Denn um 590 n. Chr. kamen Slawen aus dem Süden und gründeten das slawische Fürstentum Karantanien. Was wäre Kärnten ohne Slowenen? Das Land hätte nicht mal einen eigenen Namen. Auch für die Slawen und andere Völker des Balkans, das bedeutet auch für die Griechen, war die Linde ein wichtiger heiliger Baum.
Die Linde soll helfen Ruhe und Frieden zu finden, sie klärt die Situation und trägt zur Harmonisierung bei. Ich bin gerne bei Bäumen und ich weiß nicht, ob ich es bin, die ruhig wird, oder ob die Ruhe des Baumes mich erfaßt.
Zur Zeit finden Ausgrabungen um die Wahlfahrtskirche, die der Hl. Hemma von Gurk, der Landespatronin Kärntens und der Hl. Dorothea gewidmet ist, statt. Da dies der markanteste Platz am Plateau ist, könnte ich mir vorstellen, dass die ersten Heiligtümer sich dort befanden. Die Heiligen Plätze wurden früher von einer Religion zur nächsten weitergereicht. Wenn ich die Eindrücke von meiner Reise Revue passieren lasse, dann sah so viele Kapellen auf markanten Punkten. Warum sollten unsere Vorfahren ihre Heiligtümer auf weniger wichtigen Punkten errichtet haben?
Und was hat mir die Linde verraten? Ich umkreiste sie dreimal, bedankte mich bei ihr, weil sie mir Zweiglein schenkte, die ich mitnehmen durfte. Ich sah wie weit ihre Wurzeln das Land umarmten und dann flüsterte sie mir zu:
“Du musst nichts tun. Es ist.”