wollte, würde ich diese Reise jederzeit gegen eine Familie eintauschen.
Seltsam so sehr ich mich freue und es sogar ein wenig schwer fällt zu tauschen, weiß ich, Familie ist schöner.
Die meisten Menschen in meinem Alter (ich stehe mitten in meinen Fünfzigern) verstehen meine Verzweiflung nicht. Das sind vielleicht noch Geschwister, mit denen man nicht spricht, oder Väter, die einen meiden. Doch meist bleiben noch andere übrig, die Familie sind. Die Ausnahme wird größer, als das Normale, das man hat. Der Scheinwerfer fokussiert einen kleinen Kreis, und lässt das Ganze vergessen, das rundherum lebendig ist.
Warum ist es so, dass je älter man wird, dieses “Was einen nicht umbringt, macht einen nur härter” immer mehr inhaliert wird. Dieses Abfinden, dieses “So ist es halt”. Ich will nicht härter werden, ich bin stolz darauf weicher, empfindsamer sensibler geworden zu sein und ich will das nicht aufgeben. Seit ich denken kann, habe ich mich viel mehr bemüht, cool zu sein, anstatt weich. Weich war keine Qualität. Sanftheit nichts für Starke. Doch wie viel mehr Mut braucht es, schwach zu sein?
Ich erlaube mir, sensibel zu sein. Ich weine heute ganz weich und sanft, wenn mein Herz berührt wird. Früher war es ein Kampf mit mir selbst, um die Tränen zurückzuhalten oder ich ließ mein Herz gar nicht berühren. Ich kann doch nicht dauernd heulen, dachte ich. Ich kann mich doch nicht von so etwas lächerlichem berühren lassen.
Jetzt sehe ich auch, wenn sich jemand verschämt eine Träne wegwischt und gleich darauf lustig ist und laut, denn das wird von ihr erwartet. Und ich staune. Ich staune, wie schnell das eigene Herz vergessen wird. Ich, die es nur beobachtet, habe meine Hände schon zum Schutz für ihr Herz geformt, weil ich berührt wurde, weil ich sah, dass sie berührt wurde, und als das Licht angeht, wird das Taschentuch herausgeholt, einmal geschnäuzt, und alles ist weg. Tränen? Nie da gewesen. Im Gesicht steht: Sprich mich nicht an und eine Sekunde später übertönt das Lachen, alles, was für ein paar Sekunden hier gewesen?
Und andere tragen diese Emotion noch für Stunden herum. Während das eine von der Sturmflut hinweg gefegt wurde, erstarrt das andere im Eispanzer des Nordpols. Das eine wie das andere erscheint wie ein Gedankenpalast. Gedanken, die Gefühle formten. Ich kenne das eine wie das andere. Ich kann mich an meine Erstarrung erinnern, wo Gedanken sich keinen Zentimeter weit bewegten, ich kenne, den schnellen Griff zur Maske der Kontrolle. Und ich weiß auch von jenen Zeiten, wo das Wasser in Bewegung war, und Tränen flossen ohne besonderen Anlass und wieder vergingen ohne weiteres Zutun. Damals ahnte ich nicht, wie schwer es werden würde. Die Erstarrung als Mittel zu überleben, denn es gab nichts, das ich ändern konnte. Auch keine Entscheidung, die zu treffen war. Es war ganz einfach. Und es war schwer.
Wie viel von uns wird durch Erwartungen anderer beeinflusst? Aber noch wichtiger, wie sehr ist uns bewusst, dass wir uns davon leiten lassen? Gegen den Strom zu schwimmen, kann manchmal richtig anstrengend sein und hin und wieder findet man einen Altarm des Flusses, wo das Wasser ruhig steht und wir uns einfach treiben lassen können.
Gegen den Strom zu schwimmen, bedeutet aber auch eigenverantwortlich zu handeln, selbst zu denken. Seit ich selbst viel langsamer unterwegs bin, frage ich mich, wann finden die anderen Zeit nachzudenken. Ich meine nicht den ewigen Lärm im Kopf, die tausend Aufgaben, die Tag für Tag warten, gewälzt zu werden, hin und her, und her und hin. Das ist nicht denken, das ich meine, auch nicht die Gebetsmühlen, die ständig die gleichen Phrasen wiederholen. Ich spreche von der Leere, die erst eine Möglichkeit zur Entscheidung bietet. Vielleicht sollte ich Ruhe sagen, die mir Raum gibt, zu wissen, was ist, was sein könnte und was nicht.
Meine Gebetsmühle wäre: Ich vermisse es, eine Familie zu haben. Nun, was würde dieser Gedanke nach der zehntausendsten Wiederholung bringen? Nichts. Also blickte ich mich um, und schaute, was mein Herz noch erfreuen könnte. Das Reisen ist eine von diesen Freuden.
Im Tun finde ich Erfüllung. Das Haben hat mein Herz nur für Sekunden erreicht, das Tun erfüllt es für Jahre. Der Konsum, der Verzehr von Gütern, wird zum Verzehr von allem, von Musik, von Literatur, Verbrauch von Dingen aller Art, selbst von Ideen und Gedanken, hat uns gefangen. Die Freude, etwas zu konsumieren, lässt sich in seiner Schnelligkeit kaum verfolgen. Meine Freude, etwas zu tun, dauert an, bleibt bestehen, erfüllt mich, wird Teil von mir. Und ob andere es gut finden oder nicht, wird immer unwichtiger.