Ich spüre, dass meine Reise begonnen hat. Meine Reise mit und zu meinen Vorfahren. Es wird eine andere werden, persönlicher, intimer, als ich ursprünglich dachte. Aber natürlich wird es viele Bilder geben, denn sie führt mich wieder in wunderbare Landschaften. Es wird Einblicke geben in die Steinzeit, denn ich werde Orte besuchen, wo diese ersten Europäer, meine und wahrscheinlich auch deine Vorfahren lebten.
Es ist noch dunkle Nacht. Als ich in der Zwischenwelt von Tag und Nacht, Schlaf und Wachsein meinen Gedanken beobachtete, sah ich zurück auf jene Zeit, als ich begann, mich auf die Jahre vorzubereiten, die ich noch mit meiner Mutter verbringen durfte.
Es war eine Zeit des Großreinemachens, was auf seelischer Ebene bedeutet, durch die wildesten und wüstesten Täler und Berge zu gehen und sich diesen Schmerzen zu stellen. Ich habe in den letzten Jahren immer weniger darüber gesprochen. Ich habe zwar kein Geheimnis daraus gemacht, aber das Bedürfnis, es zu erzählen, wurde kleiner, je besser ich es hinter mir lassen konnte. Um so mehr verblüfft bin ich, dass ich nun um 5 Uhr morgens den Wunsch hatte, genau darüber nachzudenken und vor allem es auch aufzuschreiben. In Wahrheit wartete ich darauf.
Ich wusste immer schon, dass ich über diese Zeiten schreiben möchte, wie und was und wieviel wird sich noch herausstellen.
Das Jahr 2007 hat mich schon vor einigen Wochen zu verfolgen begonnen. Es war das Jahr, als ich mich ganz auf mich konzentrierte, um mich auf das, was ich anschließend er- und durchlebte, vorzubereiten. Heute kann ich sagen: I did a good job.
Mein Vater war tot und meine Mutter wollte noch nicht ins Heim. Sie hatte Alzheimer und ohne die Sozialarbeiterin, der ich voll vertraute, hätte ich diesen Weg so nicht gehen können, wie ich ihn gegangen bin. Als ich wieder mal auf der Suche nach — zwischen Leintüchern verstecktem Geld — war, fand ich auf einem alten Wochenkalender aus den 1970er Jahren Notizen auf dessen Rückseite. Eigentlich dachte ich, es wären irgendwelche Einkaufslisten, die da so flüchtig mit Bleistift hingekritzelt waren. Doch es waren die hilflosen Sätze einer Mutter über ihre pubertierende Tochter. Es brach eine Welt für mich zusammen. Denn die Illusion, dass meine Mutter immer zu mir gestanden wäre, brach von einer Sekunde zur anderen zusammen. Grund genug, dass ich das für mich ins Reine bringen wollte. Ich wusste zwar nicht, was genau auf mich zukommen würde, aber dass diese Krankheit nicht nur meine Mutter viel Kraft kosten würde sondern auch mich, war mir klar.
Ich war damals arbeitslos, aber eigentlich wollte ich von Anfang an die Zeit nutzen, das Verhältnis zu meinen Eltern zu klären und zu bereinigen, damit ich mit beiden in Frieden bin. Mein Vater hatte sich für den Freitod entschieden angesichts der Diagnose Alzheimer für ihn und meine Mutter. Es war nicht nur einmal, dass ich in den vergangenen Jahren an ihn dachte, weil ich gut verstand, was er sich erspart hatte. Das war eines der Themen, die mich beschäftigten. Ein anderes war der Schmerz, als ich erkannte, wie einsam ich war, als alle meine Bemühungen meiner Mutter, eine halbwegs gute Tochter zu sein, fehlschlugen. Schwarz auf weiß musste ich lesen, wie meine Mutter sich im einen Jahr wünschte, ich würde zu ihrem Geburtstag dies oder jenes machen, und ich es tatsächlich tat. Doch als ich es im Jahr darauf genauso machte, wie sie es sich wünschte, war sie genauso unzufrieden und wünschte sich wieder anderes. Ich hatte das alles schon längst vergessen, nur hier stand es, aufgeschrieben von meiner Mutter, nicht von mir. Ich konnte das in diesem Kalender einige Jahre lang verfolgen. Sie hatte nicht viel auf die Rückseite der Wochenblätter des Standkalenders geschrieben, doch Jahr für Jahr wie enttäuscht sie von mir war: im April zu ihrem Geburtstag und im Mai zum Muttertag.
Das stand im Hintergrund dieses Jahres. Das war die Schmerzen, denen ich mich stellen musste. Meine Mutter hatte über Jahre hindurch notiert, wie sie keine meiner Bemühungen sehen konnte. Ich fühlte mich wie Luft. Egal was ich Tat, es existierte nicht. Ein großes Thema für mich! Und ich wiederholte diesen Schmerz, dass man nicht mich wahrnahm noch viele Male. Ich weiß nicht, ob ich schon ganz gehen lassen kann. Ich spüre noch einige Zweifel.
Ich durchlitt Woche für Woche in der Körpertherapie dieses “Sich-In-Luft-Auflösens”. Panikattaken erschütterten mich und ich erzeugte mir diese Erfahrung aktuell mit einigen Freunden wieder. Sie blickten durch mich wie Luft. Und eigentlich war ich auch noch durch eine andere Angst gefangen, dass ich mit meiner Mutter, alles was mir an Familie geblieben war, verlieren werde. Einige wenige Freunde waren meine Ersatzfamilie und die Angst sie zu verlieren, war riesengroß.
Ich habe diese, an die ich mich so klammerte, alle verloren.
Neben der Therapie musste ich auch zum Chiropraktiker. Auch dort passierte es, dass uralte Ängste sich lösten. Der Nerv war zwar nicht mehr eingeklemmt, doch undefinierbare, kaum bewältigbare, sprachlose Kinderängste beherrschten mich immer wieder, nachdem ich ihn besucht hatte. Die Gefühle aus jener wortlosen Zeit ließen mich aber auch meist sprachlos anderen gegenüber sein. Es war meine intime Welt, meine Hölle, in die ich mich zurückzog.
Jemand warf mir, in dieser Zeit vor, einen ungeheuren Egoismus entwickelt zu haben. Heute 6 Jahre später, weiß ich, es war das Klügste und Beste, das ich tun konnte. Denn ich habe meinen Frieden gefunden. Ich konnte mit meiner Mutter diese vergangenen Jahre in einer berührenden Harmonie verbringen. Aber wie immer tut es verdammt weh, einen Menschen, den man liebt, leiden zu sehen.
Menschen mit Alzheimer leben nicht nur in ihren tiefen Vergangenheit, mit ihren Gefühlen leben sie ganz im Jetzt. Ich lebte nicht nur mit meiner Mutter, sondern kannte viele auch ihrer “Wohngemeinschaft”. Wenn ich freundlich war, freuten sie sich meistens. Nur wenn sie keinen guten Tag hatten, dann half alle Freundlichkeit nichts. Wenn ich nicht gut drauf war, war es gefährlich, denn dann konnten sie meine Gefühle spiegeln und mich noch weiter hinunterziehen. Trotz allem kostete es mich über die Jahre immer mehr Kraft. Wieviel, wird mir nun langsam immer bewusster. Ich bewegte mich durch mein ganzes Leben, wie durch eine Welt die statt Luft mit gallertartiger Masse gefüllt war. Alles war zäh. Knapp 14 Tage ist es her, dass sie einschlief, und ich fühle mich fitter und lebendiger als die vergangenen Jahre. Dafür danke ich meiner Mutter nun jeden Tag. Auch dass sie den Abschied für uns beide so leicht machte.
Nun wird alles klarer und reiner. Die Gedanken fliegen wieder leicht in ungeahnte Höhen. Das Leben wird spielerischer, strahlender, lebendiger.
Und ich darf auf Reisen gehen. Das war immer die Zeit, wo ich vieles vergessen konnte und vieles lernen durfte. Doch beim letzten Mal bekam ich es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn es meiner Mutter schlechter ging und ich irgendwo auf der Erde wäre? Ich beschloss in Europa zu bleiben. Dies war der Keim dieser Reise.