Eiszeiten, Flechten, Moose und andere Dinge

Bevor mich die Höhlen des Perig­ord Noir ganz in Beschlag nehmen, möchte ich nochmals zu den Gedanken zurück­kehren, die mich begleit­eten als ich durch die Alpen fuhr, den Eiszeiten.

Der Neuen­burg­er See ist ein solch­es Überbleib­sel, näm­lich ein Teil ein­er der Gletscherzun­gen des Rhône-Gletsch­ers, der der größte alpine Gletsch­er der let­zten Eiszeit war. Eine Gletscherzunge erre­ichte Lyon, die andere ging bis nach Aarau ins Schweiz­er Mittelland.

Hier muss ich ein­mal beto­nen, wie sehr ich diesen Schweiz­er Prag­ma­tismus schätze.
Das Land, das in der Mitte liegt, heißt Mit­tel­land, die let­zte Eiszeit nen­nen sie nicht Würm, son­dern let­zte Eiszeit, selb­st die Riss-Eiszeit bekommt keinen Namen son­dern wird vor­let­zte genan­nt. Warum ich das erwähne? Tja, auf der Suche nach Infor­ma­tio­nen über die Eiszeit (das Wis­sen darüber hat mich die ver­gan­genen 40 Jahre ein­fach ver­lassen) habe ich erstaunliche Dinge herausgefunden.

Oder wüsstest du, dass die über­all anders genan­nt wer­den. Nehmen wir mal die let­zte Eiszeit. In der Wikipedia fand ich folgendes:
Im Alpen­raum wird sie als Würm‑, in Nord- und Mit­teleu­ropa als Weichsel‑, in Osteu­ropa als Waldai‑, in Sibirien als Zyryanka‑, auf den Britis­chen Inseln als Deven­sian, in Irland als Midlandian‑, in Nor­dameri­ka als Fraser‑, Pinedale‑, Wis­con­si­nan- oder Wisconsin‑, in Venezuela als Mérida‑, in Chile als Llan­qui­hue- und in Neusee­land als Oti­ra-Kaltzeit bezeichnet. 
Und irgend­wo fand ich dann auch noch die let­zte Eiszeit der Schweiz­er. Geolo­gen sind ein selt­sames Volk und ob sie danach streben, ver­standen zu wer­den, glaube ich nicht recht.

Egal, diese Zeit begann ‑über­all ein wenig anders, um mich weit­er zu ver­wirren- vor etwa 115.000 bis 110.000 Jahren und endete vor etwa 12.500 bis 10.000 Jahren. Damit sollte es gewe­sen sein? Nichts da! Es war zwar kein Wech­sel­bad der Gefüh­le, aber sicher­lich eines des Tem­per­a­turen. Es war ein ständi­ges hin und her. Wenn es da Wis­senschaftler gibt, die den men­schlichen Fortschritt mit diesen sich ständig änderten Bedin­gun­gen in Zusam­men­hang brin­gen, dürften sinnliche Unrecht haben. Not macht erfind­erisch, heißt es doch so schön. Mal sehen, wie erfind­erisch wir noch werden.

Was hat das nun wieder mit mein­er Reise zu tun?

Es ist die Zeit, als die Nean­der­taler hier lebten und die ersten mod­er­nen Men­schen vor 40.000 Jahren Europa betrat­en. Um diese Zeit, wenn nicht früher, betrat­en die ersten Aus­tralier ihr neues Land. Hier habe ich so viel ver­schiedenes gele­sen, dass ich nicht recht weiß, was ich glauben soll. Ich fürchte, dass wir Europäer es nicht aushal­ten, wenn andere früher einen anderen Kon­ti­nent ent­deck­ten. Mit Lumi­neszenzmeth­o­d­en sind aus­tralis­che Wis­senschaftler heute bei 60.000 Jahren ange­langt. Während wir Europäer uns noch nicht aus Afri­ka hinauswagten.

Ich wollte mir vorstellen, wie Europa damals aussah.

Die Land­schaft war ver­mut­lich oft von Tun­dra und Steppe geprägt, auch einzelne Waldin­seln soll es gegeben haben.

Hier haben wir also Flecht­en und Moose. So unschein­bar diese Lebens­for­men sind, so wichtig sind sie für unsere Erde. Denn sie waren wesentlich daran beteiligt, die unsere Erde zu dem zu machen, was wir heute als so selb­stver­ständlich nehmen. Flecht­en sind Lebens­ge­mein­schaften zwis­chen Pilzen und einem oder mehreren Pho­to­syn­these betreiben­den Part­nern. Diese Pho­to­bion­ten, auch Phy­to­bion­ten genan­nt, sind Grü­nal­gen (Chloro­phy­ta) oder Cyanobak­te­rien. Sie eroberten das steinige Land und erzeugten als erstes Erde. Erde, die die Pflanzen zum Leben braucht­en. An ein­er stelle stand, dass sie vielle­icht schon vor 800 Mil­lio­nen Jahren an Land gin­gen. Das sind 200 Mil­lio­nen Jahre bevor mehrzel­lige Lebe­we­sen, deren Fos­silien wir gefun­den haben, ent­standen. (Für jene, die es genau wis­sen wollen, ich spreche von der Edi­acara-Fau­na). Damit beteiligten auch sie sich an der Sauer­stoff­pro­duk­tion, denn durch den Sauer­stoff wird erst höheres Leben möglich werden.

Und Moose? Wenn man die kleinen Stiele betra­chtet, ahnt man nicht, was daraus wurde. Sie waren die ersten For­men, die nach oben strebten. Später soll­ten daraus Bäume werden.

Nach­wievor sind es diese Flecht­en und Moose, die als erstes Land erobern, das nur aus Gestein beste­ht. Das wird auch so an jenen Stellen sein, wo Gletsch­er sich zurückziehen.

Wie es hier im Perig­ord Noir aus­sah, weiß ich nicht. Ein­er der Guides meinte, das die Land­schaft hier eben­so bewaldet war wie heute. Da schlägt bei mir der alpine Men­sch durch. Als ich durch die Gegend fuhr, hat­te ich keinen Ori­en­tierungssinn. Zugegeben­er Maßen war es bewölkt und die Sonne kon­nte mir bei der Ori­en­tierung auch nicht weit­er helfen. Wie der Cro Mang­no Men­sch die Höhlen wiederfind­en kon­nten, die sie zum Teil bewohn­ten, zum Teil nur für die Zer­e­monien auf­sucht­en, um auf Wän­den Malereien, Gravuren (Pet­ro­glyphen), und Skulp­turen anzufer­ti­gen, ist mir nicht ganz klar. Vielle­icht halfen ihnen die Flüsse. Beim Fahren erschienen mir die Wälder wie eine ein­heitliche riesige Landschaft.

Clermont-Ferrand — Musée Bargoin

Das Muse­um hat einen gewalti­gen Vorteil und einen gewalti­gen Nachteil.

Begin­nen möchte ich mit dem Uner­freulichem: man muss Franzö­sisch beherrschen, denn son­st geht gar nichts. Wed­er Beschrif­tun­gen, noch Audio­gu­ides, noch Prospek­te gibt es in Englisch, ganz zu schweigen in Deutsch. Was ein wenig Schade war, denn im Untergeschoss waren Dinge, Holz und Stein­skulp­turen, die ich so noch nicht gese­hen habe (und ich habe auch keinen Kat­a­log oder Fold­er dazu gefun­den, also habe ich keine Ahnung, was dass denn war).

Aber im Erdgeschoss dürfte ich fotografieren, Dinge, die ich später nicht ablicht­en durfte. Wie sagte ein­er der Führer, es hat wohl ökonomis­che Gründe, was ich viel bess­er ver­trage, als die Aus­sage, es gehe hier ums Urheberrecht.

Hier ein paar der Objekte:

Das Navi wollte mich nicht hinbringen — Cave d’Azé

Behar­rlich zeigte mir das Navi ein Azé in 500 km Ent­fer­nung an. Nein, da kon­nte und wollte ich nicht auf einen Sprung vorbeischauen.
Erst ein Prospekt beim Früh­stück, das mir nochmals ver­sicherte, dass es in der Nähe von Cluny sei, ließ mich weitersuchen.

Das Wet­ter war schon wie die ver­gan­genen Tage her­vor­ra­gend zum Besuchen von Höhlen geeignet, denn es schüttete.

Es ist keine der berühmten his­torischen Höhlen, aber ein Höh­len­sys­tem, das zeigt, wie eine Höh­le auch entste­hen kann. Diese hier wur­den durch einen Fluß aus­ge­spült und das Rauschen des Flußes, der sich nun einige Meter unter­halb durch den Felsen drängt, ließ mich über­legen, wie es wäre, wenn es noch wilder reg­nen würde. Denn rund­herum ste­ht das Land unter Wass­er. Die Flüße, die ich sah, Saône und Loire, über­schwemmten zahlre­iche Wiesen an ihren Ufern.

In der 2. Höh­le, in der auch über prähis­torisches Werkzeug, gal­lo-römis­che Mauer­reste und Gruselgeschicht­en von dort einge­spre­rrten Lep­rakranke erzählt wur­den, floß der Fluß auch mal rück­wärts und nahm somit auch zahlre­iche Bären­knochen mit. Sie wird auch die Höh­le der 1000 Bären genan­nt. Denn auch die benutzen dieses Höh­len­sys­tem regelmäs­sig. Ein kom­plettes Skelett eines Höh­len­bären haben sie sodann auch zusam­mengestellt, damit man sich die Größe bess­er vorstellen kann.
Cool sind auch die Schauer­märchen, die immer wieder erzählt werden.
Da wird der zugegeben­er Maßen riesige Höh­len­löwe mit dessen Schul­ter­höhe von 1,50 schon mal 3 Meter hoch. Seine Größe laut Wikipedia entspricht einem sehr großen Löwen von heutzutage.

Solutréen

Heute mal schnell ein paar Bilder und natür­lich Gedanken.
Das ist also der berühmte Felsen, der ein­er ganzen Zeit in der Alt­steinzeit den Namen gab. Es war immer der erste Fun­dort, dem die Ehre gebührte. Das kleine Muse­umpräsen­tiert, was ich in den let­zten Tagen und kom­menden Wochen immer wieder hören und sehen werde. Ein Abriß über die Zeit vor 40.000 Jahren bis 10.000 Jahre. Das bedeutet ein wenig Nean­der­taler und ein wenig mehr mod­ern­er Mensch.

Ich ver­sage kläglich die feinen Unter­schiede der beschla­ge­nen Steine zu erken­nen. In Cler­mond-Fer­rant habe ich dann noch extra die einzel­nen Stufen fotografiert, aber davon später.

Inzwis­chen habe ich gel­ernt, dass diese ersten Europäer immer umherge­zo­gen sind. Wenn man mich gefragt hätte, und ich darüber nachgedacht hätte, wäre mir das sicher­lich auch einge­fall­en. Aber so in der ganzen Kon­se­quenz, war mir das nicht klar. Denn es bedeutet kein fix­es zuhause. Immer auf Achse. Und nicht so lux­eriös wie ich.

Hier bei diesem Felsen wollte man vornehm­lich auf Pfer­de­jagd gehen. Die kamen 2x im Jahr hier vor­bei und der Felsen ist super, wenn man irgen­det­was run­ter­ja­gen will und es unten nur mehr zusam­men­klaubt. Denn auf ein­er Seite spaziert man gemütlich hin­auf und auf der anderen geht es abrupt hinunter.

Als ich die Zahl von 100.000 Pfer­den hörte, die hier umgekom­men sind, dachte ich mir im ersten Moment: Na wusch, kein Wun­der, dass die aus­gestor­ben sind. Die, das sind Wildpferde, die dem Prze­wal­s­ki-Pferdziem­lich ähn­lich schaut­en. In Las­caux wird mir dann noch erzählt, es waren die gle­ichen. Glaub ich nicht, sie wer­den schon ver­wandt sein, übertreiben muss man nicht. Oder french man speaks eng­lish. Die Größe und Farbe entspricht dem, was wir von diesem fast aus­gestor­be­nen Wildpferd kennen.
Also Knochen von 100.000 Pfer­den, aber — jet­zt kommt’s — in 25.000 Jahren. Das sind ger­ade Mal 4 Pferde pro Jahr. Tja, die wild jagen­den Nean­der­taler und unge­bremst töten­den Steinzeitjäger waren ziem­lich beschei­den, oder? Da die Pferde 2x im Jahr vor­beizo­gen, waren das 2 Pferde im Früh­jahr und 2 im Herb­st. Alles ist rel­a­tiv, und dank unseres Gehirns kann man 2x drüber nachdenken.

Ps. Tja, ich sollte nicht so viel lesen, dann müsste ich nichts revidieren.
1. jagten sie die Pferde nicht den Felsen hinab, son­dern trieben sie in eine Sackgasse
2. wur­den hier tat­säch­lich viele Tiere getötet und zwar so viele, dass sie nicht alle verzehrten und zer­legten. Es wur­den unversehrte Kadav­er gefunden.
3. die Nean­der­taler waren vor 55.000 Jahren dort und dann 20.000 Jahre nie­mand. Erst dann kehrte der mod­erne Men­sch zurück und tötete mehr als er brauchte.

Das waren unsere mit der Natur leben­den Vor­fahren. Allerd­ings dür­fen wir nicht vergessen, dass Höh­len­löwen und Höh­len­hyä­nen nur darauf warteten an dem Festmahl teilzunehmen.

Vor 19.000 Jahren wurde es dann allen zu kalt und als der Men­sch wieder zurück­kehrte, jagte er Ren­tiere. Den Pfer­den war es da noch zu kalt. Die Zeit des Solutréen sollte kom­men. Über die speziellen Klin­gen kommt noch später etwas.

Autriche? Oui, je suis un Autrichien

Fre­undlich werde ich immer wieder gefragt, doch in mein­er Sprachlosigkeit der franzö­sis­chen Sprache gegenüber, bleibt mir nur ein “Bon Jour” und ein fre­undlich­es Lächeln, das mit “Bon Jour, Madame” erwidert wird. Oder einem Bonne Journée, das wie mir google trans­late ver­rät, nicht gute Reise son­dern, eben­falls Guten Tag bedeutet. Mer­ci, ist ein­deutig die falsche Antwort und erk­lärt mir nun auch die fra­gen­den Blicke. Man lernt nie aus.

Kaum bin ich im Aus­land wird die Schublade ganz klar und ein­fach. Ich bin aus Öster­re­ich, also Öster­re­icherin. Das reicht für die erste Annäherung und ich stecke in ein­er Box und habe keine Ahnung, was noch alles in dieser Box mit drin­nen steckt. Aber Lucille, meine treue Twingine, hil­ft mir sicher­lich. Öster­re­icherin in einem franzö­sis­chem Auto, das kann nicht schlecht sein. Aber ich bin hier vie­len fre­undlichen Men­schen begeg­net, die meist genau­so verzweifelt wie ich schauen, wenn’s ums kom­mu­nizieren geht. Tja, wer weiß schon was Wäschetrock­n­er auf englisch heißt. Naja, ich finde 6€ für Wäschewaschen +2€ für den Trock­n­er über­zo­gen und habe mir eine Wäschestän­der aus­ge­borgt, das Waschbeck­en tut’s auch.

Ja, die Schublade für Touris­ten ist schon etwas eigenes. Zugle­ich wird mir bewusst, wie viel ich in let­zter Zeit über Authen­tiz­ität gele­sen habe. Mein buntes Gewand hat auf jeden Fall nichts damit zu tun.

_MG_6508-001Ein hohes Lob gilt jen­em, der authen­tisch ist. Wie entset­zlich, wenn ein ander­er so gar und gar nicht authen­tisch ist. Die anderen stellen gerne die Authen­tiz­ität eines anderen fest. Der­jenige, der so mit Lob aus­ges­tat­tet ist, wird dabei nicht gefragt. Es gilt, was andere erken­nen kön­nen, nein, was sie feststellen.

Doch wie kann ein­er wis­sen, wie echt der andere ist?

Zur Übung gehe ich ein­mal vom Gegen­teil aus.

Jemand stellt fest, du bist nicht du. Du bist nicht authen­tisch. Weil?

Ja, weil, der andere dich nicht mehr ken­nt. Er stellt dabei nicht in Frage, vielle­icht selb­st eine Illu­sion von dir errichtet zu haben. Kön­nte er einem Trug­bild erlegen sein, das der andere gar nicht geschaf­fen hat, son­dern dass seine eigene Fan­tasie kreiert hat? Nur bin ich bis­lang nie­man­dem begeg­net, der sich getäuscht hat, son­dern es war der andere, der ihn absichtlich in die Irre geführt hat, der­jenige, der nicht authen­tisch ist. Und es ist unglaublich welchen Zorn dies her­vor­ruft. Wie immer ist es leichter auf den anderen wütend zu sein, als sich selb­st einzugeste­hen, sich ein falsches Bild gemacht zu haben.

Wie has­ste ich immer all die Podeste, auf die ich gestellt wurde, denn von vie­len wurde ich später mit einem Tritt in den Hin­tern weit hin­unter gestoßen. Ich habe das Podest nicht aufgestellt. Doch ich spürte es. Und ahnte den tiefen Fall schon viel früher.

Im Gegen­satz dazu ist der authen­tis­che Men­sch, jen­er der Bewun­derung ver­di­ent, der aufrecht ist. Dessen Schein und Sein stim­men miteinan­der überein.

_MG_6510-001

Heute hat mich plöt­zlich das Mit­ge­fühl mit allen erfasst, die nicht als authen­tisch gel­ten. Nicht, weil es mir selb­st ein­mal zum Vor­wurf gemacht wurde, son­dern weil ich plöt­zlich ver­stand, dass ich nie­man­den kenne, der absichtlich nicht authen­tisch ist. Nie­mand will die ganze Zeit andere täuschen. Ich spreche jet­zt vom pri­vat­en Kreis: Fam­i­lie und Fre­unde. Absichtlich wäre das wohl zu anstren­gend. Wie ist es, wenn als Schein eine Maske der Fröh­lichkeit aufge­set­zt wird? Was bedeutet es, wenn jemand nie das Ver­trauen entwick­elt hat, in sein­er Trau­rigkeit, Ver­let­zlichkeit oder Schwäche angenom­men zu wer­den? Oder wenn er es endlich ein­mal wagte, gle­ich wieder zurecht gewiesen wurde? Oder er jene Men­schen ver­lor, denen er zu trauen glaubte? Denn in sein­er Ver­let­zlichkeit war ja nicht mehr er selb­st. (Ich gehe jet­zt nicht auf Heiratss­chwindler und ähn­lich­es ein, da würde mir noch genug einfallen.)

Wer ist nun mutiger? Jen­er, der immer authen­tisch war, weil er aus der Erfahrung schöpfte, so auch angenom­men zu wer­den oder der andere, der ein­mal wagt, aus den von ihm erwarteten Bah­nen auszusteigen?

Ist das nicht ungerecht?

Ich habe mich auch in Men­schen getäuscht. Doch mir war bewusst, dass mein Wun­schbild zer­stört wurde. Manch­mal sagen Men­schen das eine und meinen das andere. Vielle­icht ist ihnen der Wider­spruch nicht ein­mal bewusst. Aber es liegt an mir, mein Bild zu kor­rigieren. Es ist nicht mein Job, den Wider­spruch aufzulösen. Es kann Gründe geben, manch­mal erkenne ichb­sie, manch­mal nicht.

Sind wir Men­schen tat­säch­lich fähig, unser Han­deln unab­hängig von anderen auszuführen? Wer han­delt tat­säch­lich aus sich her­aus? Wer ist ohne Wun­den, die Nar­ben zurück­ließen? Was haben wir zuhause gel­ernt? Denken wir darüber nach, wie unser Agieren geprägt ist, von dem, was wir von anderen gel­ernt haben? Wer ken­nt alle seine Stärken und Schwächen? Wer weiß, wie er in ein­er Sit­u­a­tion reagiert, die er noch nie erlebt hat?

Ich habe als junger Men­sch darüber nachgedacht, ob ich fähig wäre, jeman­den zu lieben, der sein Ich ver­liert, der mich nicht mehr ken­nt. Ich fragte mich, ob es noch Liebe oder doch mehr Pflichter­fül­lung sei. Ich wusste es ein­fach nicht. Jet­zt habe ich es erfahren dürfen.

Meine Mut­ter bekam Alzheimer und sie wusste lange nicht mehr, wer ich bin. Seit ich beim ersten Mal vor 5 Jahren einen Stich in mein Herz spürte, weil sie mich für jemand anderen hielt, fragte ich nicht mehr und ver­mied später auch nur Andeu­tun­gen, ob sie mich je wieder erkan­nte. Wie oft wurde ich gefragt, ob sie mich noch erken­nt. Ich weiß es nicht. Was blieb, waren unsere Gefüh­le und zwar jene, die genau jet­zt da waren, in jen­em Moment, als wir uns sahen. Die waren authen­tisch, alles andere nur Tand.

Jet­zt ist sie gestor­ben und ich habe mich bedankt für die vie­len Dinge, die sie mich gelehrt hat. Das ist vielle­icht das Beson­dere an dieser Krankheit, sie lehrt die anderen sehr viel. Meine Mut­ter wurde mein größter Lehrmeis­ter, mein Lama, was das Leben im Jet­zt bet­rifft. Ich lernte, ihr zuzuse­hen, lernte, was sie mochte. Ich durfte Dinge tun, die sie mochte. Das durfte ich auch in den let­zten Stun­den mit ihr teilen. Gibt es einen schöneren Abschied? Noch nie hat­te ich in meinem Leben das Gefühl, etwas so richtig gemacht zu haben. Bei mein­er Mut­ter war kein Schein mehr, es war alles im Sein. Ich kenne nie­man­den, der so authen­tisch war oder ist.

Das wahre Ich. Welch eine Aus­sage! Wer kann von sich wirk­lich sagen, das bin ich. Ich halte es lieber mit „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

War das, was ich am Ende sah, das wahre Ich mein­er Mut­ter? Ich weiß es nicht, so wie ich es früher auch nicht wis­sen kon­nte. Ist ihr wahres Ich doch jenes, mit dem ich in Frieden bin, das ich liebe ohne irgendwelche Bedin­gun­gen und ohne Wer­tun­gen? Auch wenn sie selb­st nicht mehr weiß, wer sie ist.

Über­all sehe ich Men­schen, die wis­sen. Während ich über alles, was ich sage, disku­tieren möchte, weil ich nichts weiß. Fest­stel­lun­gen, Behaup­tun­gen, Rechthaben, selb­st „Weise-sein“ erscheint mir eine große Illu­sion zu sein. Sie sind so klug.

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

In Gedanken bin ich schon unterwegs

Ich spüre, dass meine Reise begonnen hat. Meine Reise mit und zu meinen Vor­fahren. Es wird eine andere wer­den, per­sön­lich­er, intimer, als ich ursprünglich dachte. Aber natür­lich wird es viele Bilder geben, denn sie führt mich wieder in wun­der­bare Land­schaften. Es wird Ein­blicke geben in die Steinzeit, denn ich werde Orte besuchen, wo diese ersten Europäer, meine und wahrschein­lich auch deine Vor­fahren lebten.

Es ist noch dun­kle Nacht. Als ich in der Zwis­chen­welt von Tag und Nacht, Schlaf und Wach­sein meinen Gedanken beobachtete, sah ich zurück auf jene Zeit, als ich begann, mich auf die Jahre vorzu­bere­it­en, die ich noch mit mein­er Mut­ter ver­brin­gen durfte.

Es war eine Zeit des Großreinemachens, was auf seel­is­ch­er Ebene bedeutet, durch die wildesten und wüstesten Täler und Berge zu gehen und sich diesen Schmerzen zu stellen. Ich habe in den let­zten Jahren immer weniger darüber gesprochen. Ich habe zwar kein Geheim­nis daraus gemacht, aber das Bedürf­nis, es zu erzählen, wurde klein­er, je bess­er ich es hin­ter mir lassen kon­nte.  Um so mehr verblüfft bin ich, dass ich nun um 5 Uhr mor­gens den Wun­sch hat­te, genau darüber nachzu­denken und vor allem es auch aufzuschreiben. In Wahrheit wartete ich darauf.

Ich wusste immer schon, dass ich über diese Zeit­en schreiben möchte, wie und was und wieviel wird sich noch herausstellen.

Das Jahr 2007 hat mich schon vor eini­gen Wochen zu ver­fol­gen begonnen. Es war das Jahr, als ich mich ganz auf mich konzen­tri­erte, um mich auf das, was ich anschließend er- und durch­lebte, vorzu­bere­it­en. Heute kann ich sagen: I did a good job.

Mein Vater war tot und meine Mut­ter wollte noch nicht ins Heim. Sie hat­te Alzheimer und ohne die Sozialar­bei­t­erin, der ich voll ver­traute, hätte ich diesen Weg so nicht gehen kön­nen, wie ich ihn gegan­gen bin. Als ich wieder mal auf der Suche nach — zwis­chen Lein­tüch­ern ver­steck­tem Geld — war, fand ich auf einem alten Wochenkalen­der aus den 1970er Jahren Noti­zen auf dessen Rück­seite. Eigentlich dachte ich, es wären irgendwelche Einkauf­s­lis­ten, die da so flüchtig mit Bleis­tift hingekritzelt waren. Doch es waren die hil­flosen Sätze ein­er Mut­ter über ihre pubertierende Tochter. Es brach eine Welt für mich zusam­men. Denn die Illu­sion, dass meine Mut­ter immer zu mir ges­tanden wäre, brach von ein­er Sekunde zur anderen zusam­men. Grund genug, dass ich das für mich ins Reine brin­gen wollte. Ich wusste zwar nicht, was genau auf mich zukom­men würde, aber dass diese Krankheit nicht nur meine Mut­ter viel Kraft kosten würde son­dern auch mich, war mir klar.

Ich war damals arbeit­s­los, aber eigentlich wollte ich von Anfang an die Zeit nutzen, das Ver­hält­nis zu meinen Eltern zu klären und zu bere­ini­gen, damit ich mit bei­den in Frieden bin. Mein Vater hat­te sich für den Fre­itod entsch­ieden angesichts der Diag­nose Alzheimer für ihn und meine Mut­ter. Es war nicht nur ein­mal, dass ich in den ver­gan­genen Jahren an ihn dachte, weil ich gut ver­stand, was er sich erspart hat­te. Das war eines der The­men, die mich beschäftigten. Ein anderes war der Schmerz, als ich erkan­nte, wie ein­sam ich war, als alle meine Bemühun­gen mein­er Mut­ter, eine halb­wegs gute Tochter zu sein, fehlschlu­gen. Schwarz auf weiß musste ich lesen, wie meine Mut­ter sich im einen Jahr wün­schte, ich würde zu ihrem Geburt­stag dies oder jenes machen, und ich es tat­säch­lich tat. Doch als ich es im Jahr darauf genau­so machte, wie sie es sich wün­schte, war sie genau­so unzufrieden und wün­schte sich wieder anderes. Ich hat­te das alles schon längst vergessen, nur hier stand es, aufgeschrieben von mein­er Mut­ter, nicht von mir. Ich kon­nte das in diesem Kalen­der einige Jahre lang ver­fol­gen. Sie hat­te nicht viel auf die Rück­seite der Wochen­blät­ter des Stand­kalen­ders geschrieben, doch Jahr für Jahr wie ent­täuscht sie von mir war: im April zu ihrem Geburt­stag und im Mai zum Muttertag.

Das stand im Hin­ter­grund dieses Jahres. Das war die Schmerzen, denen ich mich stellen musste. Meine Mut­ter hat­te über Jahre hin­durch notiert, wie sie keine mein­er Bemühun­gen sehen kon­nte. Ich fühlte mich wie Luft. Egal was ich Tat, es existierte nicht. Ein großes The­ma für mich! Und ich wieder­holte diesen Schmerz, dass man nicht mich wahrnahm noch viele Male. Ich weiß nicht, ob ich schon ganz gehen lassen kann. Ich spüre noch einige Zweifel.

Ich durch­litt Woche für Woche in der Kör­perther­a­pie dieses “Sich-In-Luft-Auflösens”. Panikat­tak­en erschüt­terten mich und ich erzeugte mir diese Erfahrung aktuell mit eini­gen Fre­un­den wieder. Sie blick­ten durch mich wie Luft. Und eigentlich war ich auch noch durch eine andere Angst gefan­gen, dass ich mit mein­er Mut­ter, alles was mir an Fam­i­lie geblieben war, ver­lieren werde. Einige wenige Fre­unde waren meine Ersatz­fam­i­lie und die Angst sie zu ver­lieren, war riesengroß.

Ich habe diese, an die ich mich so klam­merte, alle verloren.

Neben der Ther­a­pie musste ich auch zum Chi­ro­prak­tik­er. Auch dort passierte es, dass uralte Äng­ste sich lösten. Der Nerv war zwar nicht mehr eingek­lemmt, doch undefinier­bare, kaum bewältig­bare, sprachlose Kinderäng­ste beherrscht­en mich immer wieder, nach­dem ich ihn besucht hat­te. Die Gefüh­le aus jen­er wort­losen Zeit ließen mich aber auch meist sprach­los anderen gegenüber sein. Es war meine intime Welt, meine Hölle, in die ich mich zurückzog.

Jemand warf mir, in dieser Zeit vor, einen unge­heuren Ego­is­mus entwick­elt zu haben. Heute 6 Jahre später, weiß ich, es war das Klüg­ste und Beste, das ich tun kon­nte. Denn ich habe meinen Frieden gefun­den. Ich kon­nte mit mein­er Mut­ter diese ver­gan­genen Jahre in ein­er berühren­den Har­monie ver­brin­gen. Aber wie immer tut es ver­dammt weh, einen Men­schen, den man liebt, lei­den zu sehen.

Men­schen mit Alzheimer leben nicht nur in ihren tiefen Ver­gan­gen­heit, mit ihren Gefühlen leben sie ganz im Jet­zt. Ich lebte nicht nur mit mein­er Mut­ter, son­dern kan­nte viele auch ihrer “Wohnge­mein­schaft”. Wenn ich fre­undlich war, freuten sie sich meis­tens. Nur wenn sie keinen guten Tag hat­ten, dann half alle Fre­undlichkeit nichts. Wenn ich nicht gut drauf war, war es gefährlich, denn dann kon­nten sie meine Gefüh­le spiegeln und mich noch weit­er hin­un­terziehen. Trotz allem kostete es mich über die Jahre immer mehr Kraft. Wieviel, wird mir nun langsam immer bewusster. Ich bewegte mich durch mein ganzes Leben, wie durch eine Welt die statt Luft mit galler­tar­tiger Masse gefüllt war. Alles war zäh. Knapp 14 Tage ist es her, dass sie ein­schlief, und ich füh­le mich fit­ter und lebendi­ger als die ver­gan­genen Jahre. Dafür danke ich mein­er Mut­ter nun jeden Tag. Auch dass sie den Abschied für uns bei­de so leicht machte.

Nun wird alles klar­er und rein­er. Die Gedanken fliegen wieder leicht in ungeah­nte Höhen. Das Leben wird spielerisch­er, strahlen­der, lebendiger.

Und ich darf auf Reisen gehen. Das war immer die Zeit, wo ich vieles vergessen kon­nte und vieles ler­nen durfte. Doch beim let­zten Mal bekam ich es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn es mein­er Mut­ter schlechter ging und ich irgend­wo auf der Erde wäre? Ich beschloss in Europa zu bleiben. Dies war der Keim dieser Reise.