Meine Rechnung scheint aufgegangen zu sein. Ich wollte Altes entdecken und nicht nur Außen auch Innen. Es war ok für mich, dass ich nicht mehr in die Tiefe gehen wollte, solange meine Mutter lebte. Es hat Zeiten gegeben, da war ich so weit unten, dass ich nicht weiter fallen konnte. Mit ihrem Tod ist auch der Abschied von dieser Zeit gekommen.
Die Nächte bringen alte Erinnerungen. Alte Ängste zeigen sich.
Ich bin nicht gut im Herumstreiten. Ich bin aufgewachsen mit Streits meiner Eltern, die in ihrer Vergangenheit lagen. Sie verwirrten mich. Es dauerte über 40 Jahre, bis ich erkannte, dass es nichts mit mir zu tun hatte. In dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich die Basis meiner Reaktion auf Streit.
Ob sie sich geändert hat, weiß ich nicht.
Bei Streits werde ich still und ziehe mich zurück, anstatt laut wie andere zu werden. Ich spreche von den intimen, privaten Streits. Als Reife kann es nicht bezeichnet werden. Es hat mehr mit Totstellen zu tun. Ich höre einfach zu existieren auf, ich wähle den Rückzug. Meine Erfahrungen sind auch, als ich älter wurde, nicht hilfreich gewesen. Während andere eine Reaktion von mir wollten oder provozierten, wurde ich starr vor Schreck. Bis ich soweit gewesen wäre zu reagieren, waren die anderen schon ganz woanders. Ich brauchte Zeit, um mich zu verpuppen, bis ich wieder soweit war, herauskommen zu können. Als ich wieder reden konnte, waren die anderen nicht mehr bereit, mit mir zu sprechen. Und damit war ich wirklich tot. So hörte ich auf zu existieren. Irgendwann suchte ich auch kein Gespräch mehr. „Mit dir kann man nicht einmal streiten.“ hörte ich. Als dieser Mensch aus meinem Leben ging, war ich mir meiner Mängel nicht so bewusst wie heute. Doch ich ahnte es. Ich fühlte meine Behinderung.
Begegnet bin ich noch niemandem (ich spreche hier von dem intimen privaten Bereich — einem Partner), der mir den Raum und die Sicherheit gab, meinem Tempo zu folgen. Fragen “wer ich wirklich sei” bekam ich zu hören, oder Vergleiche mit anderen wurden gezogen, mit jenen mit denen man streiten könne, im Gegensatz zu mir. Verdammt, genau das war ich, diese Unfähige. Ich entsprach nicht den Bildern der anderen, des Ritters in strahlender Rüstung. Wie sehr ich dieses Bild hasse! Neben der lauten Ruth gibt es noch eine sehr stille, sehr langsame, schüchterne. Die wollte niemand, nein, die, die man bewundern konnte, oder auch verachten, die war toll. Mit der starken Ruth wollte man kämpfen, während ich bei vielem stark bin, nur nicht im Zweikampf. Ich liebe diese andere, die, die keiner sehen will.
Es macht mir auch Angst, nicht nur angeschrien zu werden, sondern auch anderen beim Streiten zuzuhören.
Selbst jetzt beim Schreiben bemerke ich mein Einfrieren. Nicht nur Worte hören auf, aus mir zu fließen, mir wird auch kalt. Ich bin froh, dass es hier eine Heizung gibt.
Während jene, die ihre Gefühle laut rausschreien konnten, sich ihrer Wahrhaftigkeit sicher waren und es ihnen von anderen auch versichert wird, war meine Reaktion eine ungewohnte. Zeit musste bei mir vergehen, bis die schlimmste Angst vergangen war. Mein Denken musste erst wieder zu laufen beginnen. Wie soll ich jemanden anschreien, wenn mein Hirn aufhört, sich zu regen? Da ist nichts, nichts zu sagen, nichts zu tun. Als ich mich dann endlich wieder bewegen konnte, war es für den anderen vorbei. Und ich blieb allein.
Die Behinderung ist so massiv, dass ich auch keine Erinnerung an Streits habe. Ich weiß nicht mehr, was meine Eltern an mir kritisierten, was mich verzweifelt wegfahren ließ. War es wirklich immer dieses, wie ich aussah, was ich anzog, was ich wog, warum so viel Zeit mit Freunden verbrachte? Und das wohlweißlich auch noch, als ich 40 wurde. Und als ich dann fuhr, ging man noch zu anderen und beschwerte sich über mich, während ich jede Erinnerung begrub.
Als ich endlich einmal meinen Zorn raus lassen konnte, hatte ich auch keinen Erfolg damit. Ich weiß, dass meine Art, mit Enttäuschung, mit Wut umzugehen, anders ist. Ich versuche mit 50 das zu lernen, was andere mit 2 zu üben beginnen.
Mein Rückzug nahm anderen jede Angriffsfläche. Bis ich soweit war, dass ich wieder sprechen konnte, war alles vorbei. Ich löste mich auf. Keiner wollte mit mir reden. Streit ist so etwas Intimes. Ich war nichts als Schall und Rauch. Ja, es macht mich traurig, dass es niemanden gab, der sich auf die Suche nach mir gab, dem ich wert genug war, mir in meiner Zeit, in meinem Tempo zu folgen. Muss ich mich wirklich ändern? Bin das dann noch ich, wenn ich rumbrülle, auch wenn mir nicht danach zumute ist? So ein blödes Geschwaffel über Authentizität. Hier also liegt meine Wut über diesen Begriff begraben. Bin ich etwa authentisch, wenn ich so reagiere, wie andere es von mir erwarten?
Es macht mich wütend, Luft zu sein.
Ich habe keine Lust mich mit Menschen auseinander zu setzen, für die ich Luft bin. Oder wenn sie mich ins Winkerl stellen, wo ich über meine Schandtat nachdenken könnte. Das hat bei mir nicht funktioniert, als ich 5 war und auch nicht als ich 45 war. Ich bin kein bösartiger Mensch, der absichtlich anderen weh tut. Es gibt Gründe, warum ich etwas tue und die erkläre ich gerne. Wenn ein anderer das missversteht, dann soll er’s mir sagen. Ich denke wirklich gerne darüber nach und versuche seine und meine Blickwinkel zu sehen und zu verstehen.
Dass ich mich in solche Situationen, wo ich Luft werde, begeben muss, ist schlimm genug. So schnell kann ich gar nicht sein, wie ich dort weg will.
Eines habe ich gelernt, wenn ich bei Freunden nicht so leise, so still, so langsam sein darf, wie ich es brauche, dann gehe ich. Ich sagte einmal, ich möchte etwas zu Ende sprechen, es aussprechen, etwas das mich schmerzte und mich in all meiner Verletzlichkeit traf. Ich sagte ein zweites Mal, dass ich etwas zu sagen hätte und kam nicht zu Wort, weil der andere es eilig hatte, von sich zu sprechen. Als er mich ein drittes Mal unterbrach, war ich müde. So habe ich beim letzten Mann, dem ich erlaubt habe, mir näher zu kommen, gesagt: „Ich mag nicht mehr. Es ist mir zu anstrengend.“ Nach dem ich ihn drei Mal gebeten hatte, mich aussprechen zu lassen. Und er begann, mich zu beschimpfen, eine Woche lang. Bis ich unmissverständlich sagen konnte, geh weg. Dieser Mann sprach davon, so zart wie ein Schmetterling zu sein. Es war der Tag, an dem mich der Flügelschlag eines Schmetterlings umwarf. Dass ich damit auch eine Freundin verlor, ahnte ich nicht. Doch ich war stolz, mir treu gewesen zu sein. Aber in dem Moment, wo ich wagte, so zu handeln, wie ich es brauche, bezweifelte sie meine Authentizität und warf mir ungeheuren Egoismus vor. Es tut noch immer weh.
Es war das letzte Mal, dass ich Kraft für so eine Auseinandersetzung hatte.
Ich wollte die Kraft, die ich hatte, nur für jemanden einsetzen, der es mir wert war. Und das war in den vergangenen Jahren meine Mutter. Die Energie für neue Experimente fehlte mir. Platz war zuletzt nur mehr für Freunde, die mich, jeder auf seine Art, auffingen.
Doch weil dies nicht genug ist, hole ich mir die Erfahrung der Nichtexistenz immer wieder in mein Leben. In lächerlichen Momenten. Jene Stunden, die mir persönlich nicht so nahe gehen, werden dann plötzlich sehr intim. Da dachte ich, ich übe zu sagen, was mir wichtig ist. Irgendein sachliches Thema, in der Arbeit etwa, wollte ich benutzen, um meine Meinung zu vertreten, und ernte das Nichts. Als ob ich nie etwas gesagt hätte. Wieder löse ich mich in Luft auf. Schweigen als Antwort. Ich versage kläglich, wahrgenommen zu werden. Bei menschen, die ich für meine Freunde hielt, hängt es mir dann Jahre nach. Und als Resultat frage ich mich, ergibt es überhaupt Sinn für mich, meine Bedürfnisse oder meine Gefühle zu äußern?
Ich bin allein.
Oft fragte ich mich, wie ich es schaffe, Luft zu sein. Ich mag nicht rumbrüllen müssen, um gehört zu werden. Außerdem lernte ich, dass ich mich auch tobend aufzulösen beginne. Auch in diesen Momenten blickt man durch mich wie durch Luft.
Wäre ich mir nur weniger bewusst, wie lange es dauert, einander vertraut zu machen, dann wäre es leichter. Keine Erfahrung, die ich machte, zeigte mir, dass ich so sein darf, wie ich bin, außer wenn ich alleine bin. Aber allein bin ich kaum wütend. Und vielleicht würde dann diese Angst gehen. Vielleicht würde ich nicht mehr erstarren. Deshalb fühle ich mich so ganz ganz, wenn ich nur mit mir bin.
Ich spreche niemandem ab, noch würde ich wollen, dass ein anderer nicht stürmisch, wütend, alles um sich werfend ist. Lebt euren Zorn auf eure Weise, ich habe kein Problem damit. Nur lasst mir meine Reaktion ebenso, wie ich euch eure lasse. Vielleicht irritiert es euch, wenn ich dann nur schaue. Aber ich kann in diesem Moment nicht mehr, ich bin bewegungslos. Es ist Platz für vieles auf dieser Erde, lasst mir meinen, wie ich euch euren. Das wollte ich noch sagen.
So wie der eine unbeherrscht nach Außen geht, gehe ich unbeherrscht nach Innen. Weder das eine ist eine bewusst kontrollierte Handlung, noch das andere. Vielleicht werde ich sie einmal schneller im Griff haben, aber für jetzt ist es genug, zu wissen, dass es so kommen kann.
Schmunzelnd stelle ich gerade fest, dass ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, dass ich wieder diese intime Nähe erfahre.
Das ist mein Reisetagebuch in innere und äußere Welten. Ich freu mich, dass ich diese Reise unternehme. Ich ahne nicht, wohin sie mich noch führen wird.