Ich weiß, es ist Urlaub und nicht mit normalem Leben zu vergleichen. Dennoch beginne ich mich intensiv zu fragen, wie ich wirklich leben will und wie ich dieses Leben auch verwirklichen könnte. Es geht nicht darum, nichts zu tun, es geht darum, etwas sinnvolles zu tun.
Seit ich unterwegs bin, geht mir die Vermarktung, die auf den sogenannten sozialen Plattformen nicht aus dem Sinn. Muss ich mich wirklich verkaufen? ist es wirklich normal einen Menschen wie eine Ware anzupreisen?
Einer schreibt als Titelbild: “mir hat auch keiner gesagt, wie man Kapitalist wird!” Und ich denke mir nur, ich will das nicht wissen. Schon gar nicht, dass mir einer erklärt, wie ich dazu werde. Ich will ein Mensch sein und das ist irgendwie gar nicht so leicht. Ich will doch nicht wissen, wie ich zu einer bestimmten Schublade werde. Und es ist mir egal, ob diese Schublade viel Geld bringt oder nicht.
Ob es die 200-Zeichenwelt ist, der man sich mitteilt, oder 500 Zeichen, bizarr ist beides. Teilt man sich hier mit? Wird hier nicht vielmehr ein Bild, ein Image, entworfen, ohne es vielleicht zu wissen, ohne sich dessen bewusst zu sein, oder vielleicht noch schlimmer, ohne es zu wollen? Aus welchem Zweck soll ich diese Medien verwenden? Geht es nicht einfach nur darum, was andere von mir denken sollen? Doch was geben ein paar Wörter schon von mir preis? Es ist doch nur eine Annäherung an das, was wir sind.
Und immer wieder muss ich daran denken, wieviele meiner besten Freunde nichts davon benutzen. Also darf ich mich hinsetzen und ihnen schreiben. Und sie schreiben mir. Oder ich besuche sie, wie jetzt Corinne. Ihr Englisch ist nicht so gut. Aber wir sind miteinander intensiv verbunden.
Einmal las ich: “ich wünsche den anderen das Doppelte von dem, was sie mir wünschen” kam mir nicht in den Sinn, dass derjenige davon sprach, dass andere ihm Gutes wünschten. Nein, es war wie ein böser Fluch. Die anderen wünschen mir böses und ihnen sei es mit dem doppelten vergolten. Schlimmer als “Auge um Auge, Zahn um Zahn”, denn das sollte der Blutrache Einhalt gebieten. Es stimmte mich traurig. Was so zynisch und selbstzufrieden dahin gesagt war, und ich kenne denjenigen, der das sagte, gut genug, um es so zu deuten, tut mir weh. Welchem Zweck dient dieser Sarkasmus?
Lustig ist, dass ich erkenne, dass ich mich nicht so wichtig nehme, dass sich jemand x‑beliebiger die Zeit nimmt, mir irgendetwas zu wünschen. Dafür bin ich mir sicher, dass mir meine Freunde das Allerbeste wünschen, so wie ich ihnen. Die anderen mögen mir verzeihen, ich glaube, ich bin absolut egal für ihr Leben. Und wenn ich der Rede Wert bin, dann interessiert es mich eigentlich nicht. Was soll ich mit der Meinung mir fremder Menschen anfangen, die mich entweder nicht mögen oder vielleicht gar nicht kennen. Was soll ihre Meinung mir über mich aussagen?
Allein unterwegs zu sein bedeutet auch, viel Zeit zu haben, über das, was mir begegnet, was ich lese, nachzudenken. In einem fremden Land unterwegs zu sein nochmal mehr. Und wenn ich die Sprache nicht spreche erst recht.
Sind mir die Blicke in Österreich wirklich so vertraut, dass ich in ihnen Lesens kann? Klar weiß ich, dass ich hier in Frankreich auffiel, wenn ich in der Appartementanlage unterwegs war, wo sonst nur Paare und Familien waren, doch war dies leichter auszuhalten, als jeden Tag allein in einem Hotel zu sein.
Oder bin ich mir vielleicht der Individualität so bewusst, dass mir sehr klar ist, dass ich nicht einer Gruppe zugehörig sein kann. Eine Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich von anderen unterscheidet, sie trennt. Gruppen sind definiert, was sie verbindet: Durch das, was wir arbeiten, wo wir leben, ob am Land oder in der Stadt, wo wir herkommen, was für Ausbildung wir erhalten haben, wie wir unsere Freizeit verbringen, was für Hobbys wir haben. Und es geht weiter, was wir anziehen, welche Frisur wir haben, was wir essen, wie wir unseren Urlaub verbringen. Die Basis der Vorurteile.
Das alles weist uns einer Schublade zu. Je mehr wir mit dieser Box verbinden und je genauer wir es definieren, um so besser ist unser Vorurteil definiert. Diese Boxen werden dann miteinander verknüpft und fertig ist ein bestimmtes Bild.
Kurz durchgespielt, funktioniert es ganz leicht an Hand von Berufen: ein Bibliothekar ist … Ein Journalist ist … Ein Künstler ist.… Oder Österreicher, Deutscher, Franzose, das ganze noch weiblich und die Vorurteile sprießen nur so heraus.
Ich lade jeden ein, dieses Spiel für sich durchzuspielen. Da tun sich Welten auf. Mit einer simplen Bezeichnung wird unglaublich viel verbunden.
Also ist es ganz leicht, diesem Bild nicht zu entsprechen. Nur eine Eigenschaft, die wir ganz eng damit verbinden und derjenige fällt aus der Reihe. Es sind keine Gruppen, denen du wie einem Verein beitrittst, nein es ist die Strukturierung, die wir als Vereinfachung unseres Lebens verwenden. Sie ist zu verführerisch, um sie nicht zu benutzen. Sie ist auch notwendig, denn wenn alles immer neu und ungewohnt ist, bedeutet es auch eine ständige Aufmerksamkeit, aber auch Anstrengung und Aufregung. In einem gewissen Umfang ist das ganz wunderbar und fein, doch gibt es Grenzen. Wenn du wie ein Mensch, der an Alzheimer erkrankt ist, jeden Tag deinen Schlüssel aufs Neue suchst, dann wird es dich verzweifeln lassen.
Hier bin ich wieder an jenem Punkt, wo ich immer besser verstehe, was mit dem mittleren Weg der Buddhisten gemeint ist. Es ist nicht Schwarz oder Weiß. Ich mag es auch nicht wie Billy Joel “shadows of grey” nennen, nein, es soll ein bunt wie ein Regenbogen sein, alle Farben enthalten und dadurch jedes beliebige Bild entstehen lassen, sei es ein lustiges oder ein trauriges, ein stilles oder ein lautes. Und manchmal wird es schwarz sein und manchmal weiss. Es ist nicht nur geradeaus, aber auch nicht nur verwinkelt. Es ist mindestens beides.
Das Leben enthält alles und wir Menschen sind mehr, als uns klar ist. Was wir hier brauchen ist, die Einsicht, dass es mehr gibt. Diese Erkenntnis hilft uns offener zu sein und die Variationen des Lebens zu sehen.